Aufruf-Störer Burda Digital Health

Werbung

Somatoforme Störungen: Körperliche Beschwerden ohne organische Ursache

Wie kein anderes Organ spiegelt der Magen-Darm-Trakt unser Wohlbefinden – im Guten wie im Schlechten. Ein Grund, genauer auf den Bauch zu hören.

Geprüft von Jochen Niehaus, Chefredakteur FOCUS-GESUNDHEIT

Veröffentlicht:
Aktualisiert: 2022-08-08T00:00:00+02:00 2022-08-08T00:00:00+02:00

Werbung

Frau zeigt mit beiden Zeigefingern auf ihren freien Bauch

© Shutterstock

Die Achillesferse kann im Bauch lie­gen. Diese nach der griechischen Sage benannte verwundbare Stelle des Körpers zeigt verlässlich wie ein Uhrwerk an, wenn das System aus dem Lot geraten ist. Dann rebellieren Magen und Darm – mit Bauchschmerzen, Krämpfen, Sod­brennen, Durchfall, Blähungen, Übelkeit.

Der Stein im Magen, der vor Aufregung ver­gangene Appetit: Viele Redewendungen erzählen davon, wie normal körperliche Reaktionen unserer Mitte auf seelische Empfindungen sind. Und wie rasch sie wieder vergehen. Doch wenn das Grim­men und Ziehen, Rumoren und Drücken anhält, kann sich das Ganze verselbstständigen – meist ausgelöst durch ein komplexes Zusammenspiel aus physischen und psychischen Faktoren.

Weil der Verdauungskanal in ein Netz von 100 Millionen Nervenzellen eingebettet ist, kann man den Bauch zu Recht als Pendant zur Zentrale im Schädel ansehen. Wissenschaftler sprechen vom enterischen Nervensystem – oder einfach vom Bauchhirn. „Bauch­ und Kopfhirn ähneln sich in Aufbau und Funktion, und beide Organe tau­schen sich auch unablässig aus“, sagt Thomas Frieling, Chefarzt der Medizinischen Klinik für Gastroenterologie am Helios Klinikum Krefeld.

Unser Experte für Gastroenterologie

Prof. Thomas Frieling, Chefarzt der Medizinischen Klinik für Gastroenterologie am Helios Klinikum Krefeld.
Die „Darm­-Hirn­-Achse“ verläuft über Nerven, die die Organe verbinden. Zusätzlich können Bo­tenstoffe und zahlreiche Hormone über das Blut die Hirnfunktionen beeinflussen. „Wie eine viel­spurige Autobahn über verschiedene Wege“, beschreibt es der Experte. Die große Mehrzahl der Informationen geht dabei vom Bauch zum Gehirn. Hormone, die Hunger und Sättigung steuern – wie Ghrelin, das in der Magenschleimhaut und der Bauchspeicheldrüse produziert wird, oder Nesfa­tin aus dem Magen –, sind auch eng mit unserem emotionalen Befinden verwoben. Wenn man Angst oder großen Zeitdruck hat, ist eben nicht die Zeit zum Essen, das Appetitverhalten ändert sich dann.

Zusammenspiel von Bauch und Gehirn

Heute weiß man, dass der Darm selbst Stresshor­mone bildet und über die Rezeptoren für die Boten­stoffe verfügt. „Er hat das ganze Repertoire beisammen, damit diese Prozesse unabhängig, ohne Umweg über das Gehirn ablaufen können“, sagt Andreas Stengel, Stellvertretender Ärztlicher Di­rektor der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tübingen und Vorsitzender der Deutschen Gesell­schaft für Neurogastroenterologie.

Das macht die unmittelbare, reflexartige Reaktion verständlich: Darmgrummeln bei Nervosität entsteht so plötz­lich wie das Bauchflattern beim ersten Date. Natür­lich kommt das Gehirn trotzdem ins Spiel, indem es Muster verstetigt, bewertet und einordnet.

Angst und großer Stress führen zum Beispiel zur Ausschüttung von Adrenalin. Es sorgt binnen Se­kunden dafür, dass Gehirn und Muskeln mehr Energie zur Verfügung steht. Im Gegenzug hemmt das Hormon die Magen­-Darm­-Tätigkeit (oder ent­leert den Darm noch mal rasant).

Der Körper bereitet sich auf Flucht oder Kampf vor, nicht re­levante Organe werden vernachlässigt. Die Abläu­fe beruhen auf uralten evolutionären Mechanis­men. Ist der Alarm vorüber, reguliert sich das System wieder. Chronischer Stress jedoch, bei dem Wegrennen selten hilft, kann die Verdauungsfunk­tionen beeinträchtigen und den Organismus aus dem Gleichgewicht bringen.

„Wenn Beschwerden immer wiederkommen, ist die Kommunikation zwischen Gehirn und Bauch gestört“, weiß Exper­te Frieling. Das Bauchhirn reagiert über – mit chro­nischen Verdauungsstörungen als Folge. Es kann die Barrierefunktion am Mageneingang modifizie­ren und Sodbrennen auslösen. Oder die Bewegung der Darmmuskulatur beeinflussen, sodass Bauch­schmerzen, Übelkeit, Durchfall entstehen. Zudem erhöht sich häufig die Empfindlichkeit im Darm und im Kopf – dann werden schon normale Ver­dauungsvorgänge als unangenehm empfunden.
Gefühle, Angst und Stimmungsveränderungen schlagen sich auf die Magen-­Darm­-Funktion nieder. Umgekehrt können Verdauungsbeschwer­den auch auf die Psyche gehen. So treten Magen­-Darm­-Probleme nachweislich oftmals zusammen mit depressiven Verstimmungen und Ängsten oder Stresszuständen auf. Wie groß die Rolle der Darm­flora dabei ist, dass Magen und Darm buchstäblich die Nerven verlieren, ist unklar. „Es muss noch erforscht werden, welche Bakterienkonstellationen für psychische Veränderungen wie Depressionen verantwortlich sind und ob es die Bakterien selbst sind, die auf die Hormonregulation einwirken, oder – das ist wahrscheinlicher – deren Abbauprodukte“, betont Psychogastroenterologe Stengel.

Werbung

Was sind Somatoforme Störungen?

Problematisch wird es, sobald Symptome an­dauern, zunehmen und als bedrohlich empfunden werden – etwa wenn schon abends beim Gedanken an den nächsten Arbeitstag der Magen schmerzt. Die Übergänge von Unwohlsein zum Krankhaften sind fließend und auch subjektiv. Menschen fühlen sich unterschiedlich stark beeinträchtigt. Experten sprechen von einer somatoformen Störung (Soma, griechisch für Körper), wenn Betroffene körperli­che Beschwerden haben, obwohl keine organische Ursache gefunden werden kann, die die Symptome umfänglich erklärt.

„Es sind weder rein körperliche Erkrankungen noch, und das ist wichtig, rein psy­chische“, betont Stengel. „Wir kommen weg vom früheren Entweder­oder.“ Auch Diabetes habe nachweislich eine psychische Komponente und Depressionen eine körperliche. Es handelt sich viel­ mehr um ein vielschichtiges Zusammenspiel aus genetischen Veränderungen und psychischen Be­lastungen wie chronischem Stress oder ungünsti­gen Lebensbedingungen. „All dies zusammen bil­det den Nährboden, dass sich eine Erkrankung entwickelt oder fortbesteht“, weiß Stengel. Zehn Prozent der Deutschen leiden an einer somatofor­men Störung des oberen und unteren Verdauungs­systems wie dem Reizdarmsyndrom.

Behandlung nach dem biopsychosozialen Modell

Da ein ganzheitlicher Blick auf den Menschen nötig ist, behandeln Experten die Störungen nach dem biopsychosozialen Modell. Therapiebausteine sind Wissensvermittlung, Bewegung, Ernährungs­kultur, diätische Ansätze, Entspannung, Medika­mente gegen die Symptome und Psychotherapie. „Bei zwei Drittel bis 80 Prozent der Patienten bes­sern sich die Beschwerden deutlich“, sagt Stengel.

Werbung

Ri­sikofaktor für Somatoforme Störungen

Zuerst werden wichtige andere Erkrankungen ein­malig ausgeschlossen. Bei anhaltenden Bauchbe­schwerden ist meist eine Darmspiegelung ange­zeigt. „Dickdarmkrebs kann in der Frühform ähn­liche Symptome wie ein Reizdarm auslösen, genau wie Eierstockkrebs auch“, erklärt Gastroenterolo­ge Frieling. Bei Patienten mit Bauchschmerzen und Durchfällen sollte früh eine ausführliche Untersu­chung stattfinden. Studien zeigen, dass hier ande­re Ursachen gefunden werden können, etwa rheu­maähnliche Erkrankungen, chronisch entzündliche Darmerkrankungen oder eine mikroskopische Colitis, bei der sich der Dickdarm entzündet. Statt zeitaufwendige Ausschlussdiagnosen abzuwarten, ebnen die Ärzte zugleich schon einer Therapie den Weg, die die Psyche mit einschließt.

Betroffene tun sich mitunter schwer, auch see­lische Ursachen in Betracht zu ziehen. Nicht selten spüren sie nur das Körperliche, jedoch nicht das zugrunde liegende Gefühl, medizinisch Affekt ge­nannt. „Wenn sie wütend sind, merken sie, dass der Bauch grimmt, aber sie merken die Wut nicht“, weiß Experte Stengel. Im Rahmen einer Psycho­therapie lässt sich die Affektwahrnehmung wieder lernen. Werden Gefühle als solche gespürt und finden sie in unserem Verhalten Ausdruck, braucht es das Bauchkneifen oft nicht mehr.

Es kann sich lohnen zu reflektieren, wie die eigenen Eltern mit ihren Gefühlen und denen ihrer Kinder umgingen. Wurden diese gesehen und beachtet? Oder haben diese nur reagiert, wenn es richtig schlimm war? „Womöglich wurden da Weichen für die Intensität der Beschwerden gestellt“, sagt Psychosomatik-­Experte Stengel. Ein extremer Ri­sikofaktor für somatoforme Störungen wie eine Überempfindlichkeit des Darms sind Traumata in der frühen Kindheit. „Aber auch schwerwiegende Ereignisse wie Jobverlust, Mobbingerfahrungen, Trennungen oder Todesfälle können sich krankheitsbegünstigend auswirken“, betont Stengel.

Seit Kurzem diskutieren Gastroenterologen den Einfluss von Lernprozessen auf wiederkehrende Verdauungsprobleme. „Man kann Nahrungsunver­träglichkeiten tatsächlich lernen“, so Experte Frie­ling. Wie bei der klassischen Konditionierung, dem bekannten pawlowschen Reflex, lässt sich Nahrung mit Dingen oder Ereignissen koppeln – etwa wenn man in einer Situation isst, die den eigenen Wider­willen hervorruft, und sich dies drei­, viermal wie­derholt. „Patienten meinen, der Auslöser ihrer Symptome seien Verdauungsstörungen durch die Nahrung, aber es ist nur das Kopplungsphänomen, die Missempfindung ist quasi erlernt“, so Frieling.

Der Magen­-Darm­-Spezialist und sein Team be­schäftigen sich intensiv mit der Frage, wie solch fatale Lernprozesse zukünftig wieder gelöst wer­den könnten. „Ich halte den Konditionierungsan­satz für absolut vielversprechend“, sagt Frieling. „Wir wissen, dass der Darm lernen kann. Über Verhaltenstraining, bei dem auslösende Situatio­nen neu bewertet werden, müsste auch eine Ent­kopplung möglich sein.“

Die zur Behandlung des Reizdarms etablierte Darmhypnose geht bereits ein Stück weit in diese Richtung.

FOCUS-GESUNDHEIT 06/22

Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in der Ausgabe Magen & Darm. Weitere Themen: Sodbrennen, Reflux und Gastritis wieder in den Griff bekommen. Verdauungsmythen im Gesundheitscheck. U.v.m.

Zum E-Paper-Shop

Zum Print-Shop

Somatoformen Störungen vorbeugen

Die Gründe können noch verborgen sein, während der Bauch längst reagiert. Trotzdem hat jeder Möglichkeiten, damit sich aus einer Reizung keine chronische Störung entwickelt. Es gilt, möglichst feinfühlig auf die Signale des Körpers einzugehen. „Je flexibler wir reagieren, desto besser können wir uns schützen“, sagt Elisabeth Rauh, Chefärztin für Psychosomatik an der Schön Klinik Bad Staffelstein.

Unsere Expertin für Psychosomatik

Dr. Elisabeth Rauh, Die Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie mit Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren leitet das Zentrum für Psychosomatik an der Schön Klinik Bad Staffelstein.
Wie unterstützen Sie Betroffene, mit ihren Symptomen besser klarzukommen?

Wir haben keine pauschalen Loösungen parat, sondern begleiten Patienten dabei, eine gute Work­-Life­-Balance aufzubauen. Sie selbst müssen Chancen und Möglichkeiten sehen, die sie nutzen wollen. Dann geht es darum zu lernen, Selbstfürsorge wichtig zu nehmen. Viele haben sich bisher vernachlässigt.

Wie kann Selbstfürsorge aussehen?

Indem man seine Ernährung ernst nimmt und sich fragt: Was tut mir gut? Gebe ich meinem Magen Zeit zum Verdauen? Was vertrage ich nicht? In welchen Situationen esse ich ungut? Wie ist meine Stuhlhygiene? Oder indem man bewusst Zeit für Entspannung einplant, gerade in anstrengenden Phasen. Ein Bauchwickel mit einer kühlen Kompresse ist ein Entspan­nungsbeschleuniger. Wenn man ihn mit Atem­übungen kombiniert, beruhigt sich das ganze Nervensystem. Auch Einreibungen mit Aroma­ölen und das Trinken von Enzian­, Salbei­ oder Wermuttee können Symptome lindern.

Was ist zudem hilfreich?

Erkrankungen wie das Reizdarmsyndrom verunsichern oft die innere Stimme. Ein Befindlichkeitstagebuch macht Sinn, da man oft erst in der Rückschau erkennen kann, ob etwa Aktivierung oder Schonung besser ist. Verhaltensmuster werden so sichtbar.

Wenn sich der Bauch wieder wie ein kalter Klumpen anfühlt, sollte man dies nicht übergehen. Der Empfindung nachzuspüren kann das Verständnis für die eigene Person verbessern und ein Anfang zu mehr Selbstmitgefühl sein. Sich zu fragen: Wie fühlt sich mein Bauch an? Was ist gerade los bei mir? Bin ich wütend? Woran könnte das liegen? Und vor allem: Wie kann ich mich selbst beruhigen? Was tut mir jetzt gut? stärkt Körper­intuition und Wohlbefinden.

„Leider hat unsere Gesellschaft ein Stück weit verlernt, Selbstmitge­fühl zu haben“, sagt Rauh. „Dabei entfaltet dieses Mitgefühl mit sich selbst eine enorme Wirkung, man kommt viel besser durchs Leben.“ Das Kon­zept von Verhaltenstherapien wie „Mindful Self­ Compassion“ ist, dass man sich – mit all seinen Fehlern und Misserfolgen – genauso verständnis­voll und gütig behandelt wie einen Freund. Die Fähigkeit lässt sich trainieren. Studien zeigen: Wem dies gelingt, der meistert Belastungen leichter, fühlt sich besser und ist motivierter. Die seelischen Ab­wehrkräfte werden gestärkt. Natürlich: Ständig in sich hineinzuhorchen ist nicht immer sinnvoll. Doch wo Zeit stets knapp ist, profitieren die meis­ten davon, sich diese zuzugestehen. „Auf sein Bauchgefühl hören heißt eben nicht: aus dem Bauch raus, zack, bum, fertig, sondern wirklich mit sich, mit Verstand und allen Gefühlen, in Balance zu sein“, sagt die Psychotherapeutin. Für eine bes­sere Verbindung zu unserer Mitte.
FOCUS-Gesundheit – Klinikliste 2025

© FOCUS-Gesundheit

Klinikliste 2025

FOCUS-Gesundheit 04/2024
Was die Computertomographie als neue Methode bei der Diagnose von Erkrankungen der Herzgefäße leistet. Wird bei Rückenschmerzen zu schnell operiert? So treffen Sie für sich die richtige Entscheidung. U.v.m. Plus: Deutschlands Top-Fachkliniken für 60 Krankheitsbereiche.

Wichtiger Hinweis

Dieser Artikel enthält allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder –behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen. Den passenden Arzt finden Sie über unser Ärzteverzeichnis.

Höchster Qualitätsanspruch: So arbeiten wir.

Fragen? Schreiben Sie uns!

Dr. Andrea Bannert

Redaktionsleitung DIGITAL FOCUS-Gesundheit

Facebook Logo Instagram Logo Email Logo
Fragen Bild
Redaktor Bild

Hinweis der Redaktion

Im Sinne einer besseren Lesbarkeit unserer Artikel verwenden wir kontextbezogen jeweils die männliche oder die weibliche Form. Sprache ist nicht neutral, nicht universal und nicht objektiv. Das ist uns bewusst. Die verkürzte Sprachform hat also ausschließlich redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung. Jede Person – unabhängig vom Geschlecht – darf und soll sich gleichermaßen angesprochen fühlen.

Weitere Online-Angebote:

Services der © BurdaVerlag Data Publishing GmbH, Deutsches Institut für Qualität und Finanzen