Der Stein im Magen, der vor Aufregung vergangene Appetit: Viele Redewendungen erzählen davon, wie normal körperliche Reaktionen unserer Mitte auf seelische Empfindungen sind. Und wie rasch sie wieder vergehen. Doch wenn das Grimmen und Ziehen, Rumoren und Drücken anhält, kann sich das Ganze verselbstständigen – meist ausgelöst durch ein komplexes Zusammenspiel aus physischen und psychischen Faktoren.
Weil der Verdauungskanal in ein Netz von 100 Millionen Nervenzellen eingebettet ist, kann man den Bauch zu Recht als Pendant zur Zentrale im Schädel ansehen. Wissenschaftler sprechen vom enterischen Nervensystem – oder einfach vom Bauchhirn. „Bauch und Kopfhirn ähneln sich in Aufbau und Funktion, und beide Organe tauschen sich auch unablässig aus“, sagt Thomas Frieling, Chefarzt der Medizinischen Klinik für Gastroenterologie am Helios Klinikum Krefeld.
Unser Experte für Gastroenterologie
Prof. Thomas Frieling, Chefarzt der Medizinischen Klinik für Gastroenterologie am Helios Klinikum Krefeld.Zusammenspiel von Bauch und Gehirn
Heute weiß man, dass der Darm selbst Stresshormone bildet und über die Rezeptoren für die Botenstoffe verfügt. „Er hat das ganze Repertoire beisammen, damit diese Prozesse unabhängig, ohne Umweg über das Gehirn ablaufen können“, sagt Andreas Stengel, Stellvertretender Ärztlicher Direktor der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tübingen und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Neurogastroenterologie.Das macht die unmittelbare, reflexartige Reaktion verständlich: Darmgrummeln bei Nervosität entsteht so plötzlich wie das Bauchflattern beim ersten Date. Natürlich kommt das Gehirn trotzdem ins Spiel, indem es Muster verstetigt, bewertet und einordnet.
Angst und großer Stress führen zum Beispiel zur Ausschüttung von Adrenalin. Es sorgt binnen Sekunden dafür, dass Gehirn und Muskeln mehr Energie zur Verfügung steht. Im Gegenzug hemmt das Hormon die Magen-Darm-Tätigkeit (oder entleert den Darm noch mal rasant).Der Körper bereitet sich auf Flucht oder Kampf vor, nicht relevante Organe werden vernachlässigt. Die Abläufe beruhen auf uralten evolutionären Mechanismen. Ist der Alarm vorüber, reguliert sich das System wieder. Chronischer Stress jedoch, bei dem Wegrennen selten hilft, kann die Verdauungsfunktionen beeinträchtigen und den Organismus aus dem Gleichgewicht bringen.
„Wenn Beschwerden immer wiederkommen, ist die Kommunikation zwischen Gehirn und Bauch gestört“, weiß Experte Frieling. Das Bauchhirn reagiert über – mit chronischen Verdauungsstörungen als Folge. Es kann die Barrierefunktion am Mageneingang modifizieren und Sodbrennen auslösen. Oder die Bewegung der Darmmuskulatur beeinflussen, sodass Bauchschmerzen, Übelkeit, Durchfall entstehen. Zudem erhöht sich häufig die Empfindlichkeit im Darm und im Kopf – dann werden schon normale Verdauungsvorgänge als unangenehm empfunden.Werbung
Was sind Somatoforme Störungen?
Problematisch wird es, sobald Symptome andauern, zunehmen und als bedrohlich empfunden werden – etwa wenn schon abends beim Gedanken an den nächsten Arbeitstag der Magen schmerzt. Die Übergänge von Unwohlsein zum Krankhaften sind fließend und auch subjektiv. Menschen fühlen sich unterschiedlich stark beeinträchtigt. Experten sprechen von einer somatoformen Störung (Soma, griechisch für Körper), wenn Betroffene körperliche Beschwerden haben, obwohl keine organische Ursache gefunden werden kann, die die Symptome umfänglich erklärt.
„Es sind weder rein körperliche Erkrankungen noch, und das ist wichtig, rein psychische“, betont Stengel. „Wir kommen weg vom früheren Entwederoder.“ Auch Diabetes habe nachweislich eine psychische Komponente und Depressionen eine körperliche. Es handelt sich viel mehr um ein vielschichtiges Zusammenspiel aus genetischen Veränderungen und psychischen Belastungen wie chronischem Stress oder ungünstigen Lebensbedingungen. „All dies zusammen bildet den Nährboden, dass sich eine Erkrankung entwickelt oder fortbesteht“, weiß Stengel. Zehn Prozent der Deutschen leiden an einer somatoformen Störung des oberen und unteren Verdauungssystems wie dem Reizdarmsyndrom.Behandlung nach dem biopsychosozialen Modell
Da ein ganzheitlicher Blick auf den Menschen nötig ist, behandeln Experten die Störungen nach dem biopsychosozialen Modell. Therapiebausteine sind Wissensvermittlung, Bewegung, Ernährungskultur, diätische Ansätze, Entspannung, Medikamente gegen die Symptome und Psychotherapie. „Bei zwei Drittel bis 80 Prozent der Patienten bessern sich die Beschwerden deutlich“, sagt Stengel.
Werbung
Risikofaktor für Somatoforme Störungen
Zuerst werden wichtige andere Erkrankungen einmalig ausgeschlossen. Bei anhaltenden Bauchbeschwerden ist meist eine Darmspiegelung angezeigt. „Dickdarmkrebs kann in der Frühform ähnliche Symptome wie ein Reizdarm auslösen, genau wie Eierstockkrebs auch“, erklärt Gastroenterologe Frieling. Bei Patienten mit Bauchschmerzen und Durchfällen sollte früh eine ausführliche Untersuchung stattfinden. Studien zeigen, dass hier andere Ursachen gefunden werden können, etwa rheumaähnliche Erkrankungen, chronisch entzündliche Darmerkrankungen oder eine mikroskopische Colitis, bei der sich der Dickdarm entzündet. Statt zeitaufwendige Ausschlussdiagnosen abzuwarten, ebnen die Ärzte zugleich schon einer Therapie den Weg, die die Psyche mit einschließt.Betroffene tun sich mitunter schwer, auch seelische Ursachen in Betracht zu ziehen. Nicht selten spüren sie nur das Körperliche, jedoch nicht das zugrunde liegende Gefühl, medizinisch Affekt genannt. „Wenn sie wütend sind, merken sie, dass der Bauch grimmt, aber sie merken die Wut nicht“, weiß Experte Stengel. Im Rahmen einer Psychotherapie lässt sich die Affektwahrnehmung wieder lernen. Werden Gefühle als solche gespürt und finden sie in unserem Verhalten Ausdruck, braucht es das Bauchkneifen oft nicht mehr.
Es kann sich lohnen zu reflektieren, wie die eigenen Eltern mit ihren Gefühlen und denen ihrer Kinder umgingen. Wurden diese gesehen und beachtet? Oder haben diese nur reagiert, wenn es richtig schlimm war? „Womöglich wurden da Weichen für die Intensität der Beschwerden gestellt“, sagt Psychosomatik-Experte Stengel. Ein extremer Risikofaktor für somatoforme Störungen wie eine Überempfindlichkeit des Darms sind Traumata in der frühen Kindheit. „Aber auch schwerwiegende Ereignisse wie Jobverlust, Mobbingerfahrungen, Trennungen oder Todesfälle können sich krankheitsbegünstigend auswirken“, betont Stengel.
Seit Kurzem diskutieren Gastroenterologen den Einfluss von Lernprozessen auf wiederkehrende Verdauungsprobleme. „Man kann Nahrungsunverträglichkeiten tatsächlich lernen“, so Experte Frieling. Wie bei der klassischen Konditionierung, dem bekannten pawlowschen Reflex, lässt sich Nahrung mit Dingen oder Ereignissen koppeln – etwa wenn man in einer Situation isst, die den eigenen Widerwillen hervorruft, und sich dies drei, viermal wiederholt. „Patienten meinen, der Auslöser ihrer Symptome seien Verdauungsstörungen durch die Nahrung, aber es ist nur das Kopplungsphänomen, die Missempfindung ist quasi erlernt“, so Frieling.
Der Magen-Darm-Spezialist und sein Team beschäftigen sich intensiv mit der Frage, wie solch fatale Lernprozesse zukünftig wieder gelöst werden könnten. „Ich halte den Konditionierungsansatz für absolut vielversprechend“, sagt Frieling. „Wir wissen, dass der Darm lernen kann. Über Verhaltenstraining, bei dem auslösende Situationen neu bewertet werden, müsste auch eine Entkopplung möglich sein.“
Die zur Behandlung des Reizdarms etablierte Darmhypnose geht bereits ein Stück weit in diese Richtung.
FOCUS-GESUNDHEIT 06/22
Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in der Ausgabe Magen & Darm. Weitere Themen: Sodbrennen, Reflux und Gastritis wieder in den Griff bekommen. Verdauungsmythen im Gesundheitscheck. U.v.m.Zum E-Paper-Shop
Zum Print-Shop
Somatoformen Störungen vorbeugen
Die Gründe können noch verborgen sein, während der Bauch längst reagiert. Trotzdem hat jeder Möglichkeiten, damit sich aus einer Reizung keine chronische Störung entwickelt. Es gilt, möglichst feinfühlig auf die Signale des Körpers einzugehen. „Je flexibler wir reagieren, desto besser können wir uns schützen“, sagt Elisabeth Rauh, Chefärztin für Psychosomatik an der Schön Klinik Bad Staffelstein.
Unsere Expertin für Psychosomatik
Dr. Elisabeth Rauh, Die Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie mit Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren leitet das Zentrum für Psychosomatik an der Schön Klinik Bad Staffelstein.Wir haben keine pauschalen Loösungen parat, sondern begleiten Patienten dabei, eine gute Work-Life-Balance aufzubauen. Sie selbst müssen Chancen und Möglichkeiten sehen, die sie nutzen wollen. Dann geht es darum zu lernen, Selbstfürsorge wichtig zu nehmen. Viele haben sich bisher vernachlässigt.
Indem man seine Ernährung ernst nimmt und sich fragt: Was tut mir gut? Gebe ich meinem Magen Zeit zum Verdauen? Was vertrage ich nicht? In welchen Situationen esse ich ungut? Wie ist meine Stuhlhygiene? Oder indem man bewusst Zeit für Entspannung einplant, gerade in anstrengenden Phasen. Ein Bauchwickel mit einer kühlen Kompresse ist ein Entspannungsbeschleuniger. Wenn man ihn mit Atemübungen kombiniert, beruhigt sich das ganze Nervensystem. Auch Einreibungen mit Aromaölen und das Trinken von Enzian, Salbei oder Wermuttee können Symptome lindern.
Erkrankungen wie das Reizdarmsyndrom verunsichern oft die innere Stimme. Ein Befindlichkeitstagebuch macht Sinn, da man oft erst in der Rückschau erkennen kann, ob etwa Aktivierung oder Schonung besser ist. Verhaltensmuster werden so sichtbar.
Wenn sich der Bauch wieder wie ein kalter Klumpen anfühlt, sollte man dies nicht übergehen. Der Empfindung nachzuspüren kann das Verständnis für die eigene Person verbessern und ein Anfang zu mehr Selbstmitgefühl sein. Sich zu fragen: Wie fühlt sich mein Bauch an? Was ist gerade los bei mir? Bin ich wütend? Woran könnte das liegen? Und vor allem: Wie kann ich mich selbst beruhigen? Was tut mir jetzt gut? stärkt Körperintuition und Wohlbefinden.
„Leider hat unsere Gesellschaft ein Stück weit verlernt, Selbstmitgefühl zu haben“, sagt Rauh. „Dabei entfaltet dieses Mitgefühl mit sich selbst eine enorme Wirkung, man kommt viel besser durchs Leben.“ Das Konzept von Verhaltenstherapien wie „Mindful Self Compassion“ ist, dass man sich – mit all seinen Fehlern und Misserfolgen – genauso verständnisvoll und gütig behandelt wie einen Freund. Die Fähigkeit lässt sich trainieren. Studien zeigen: Wem dies gelingt, der meistert Belastungen leichter, fühlt sich besser und ist motivierter. Die seelischen Abwehrkräfte werden gestärkt. Natürlich: Ständig in sich hineinzuhorchen ist nicht immer sinnvoll. Doch wo Zeit stets knapp ist, profitieren die meisten davon, sich diese zuzugestehen. „Auf sein Bauchgefühl hören heißt eben nicht: aus dem Bauch raus, zack, bum, fertig, sondern wirklich mit sich, mit Verstand und allen Gefühlen, in Balance zu sein“, sagt die Psychotherapeutin. Für eine bessere Verbindung zu unserer Mitte.