Mit der mittleren Zehe am linken Fuß fing es an. Eine winzige Wunde, kaum der Rede wert. Irgendwo angestoßen, aufgescheuert, hängengeblieben – Eckhard Reimers weiß es nicht mal mehr genau. „Normalerweise wäre ich wegen so was gar nicht zum Arzt gegangen“, sagt er. Doch weil er Typ-2-Diabetes hat und um die Gefahr selbst kleinster Verletzungen weiß, ließ er die Wunde sofort behandeln.
Die Ärzte versuchten es mit Antibiotika, Spülungen und Verbänden – vergebens. Statt zu verheilen, breitete sich die Entzündung im Gewebe immer weiter aus. Knapp ein halbes Jahr später musste der Zeh amputiert werden. „Kurz darauf hat sich schon der nächste entzündet, und nach und nach habe ich nicht nur alle linken Zehen, sondern auch meinen Vorderfuß auf dieser Seite verloren“, erzählt der heute 68-Jährige und seufzt.
FOCUS-GESUNDHEIT 09/21
Dieser Artikel erscheint in der Ausgabe Klinikliste 2022 von FOCUS-GESUNDHEIT. Weitere Themen: Was Pflegende an ihrer Arbeit lieben und was sich ändern muss. Moderne Anästhesie: schonend, sicher, maßgeschneider. U.v.m.
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Mit jeder Amputation hat er ein Stück Freiheit, Mobilität und Hoffnung eingebüßt. Längere Strecken gehen kann er nicht mehr, dafür ist sein Gang zu holprig. Radfahren klappt noch gut, doch auch darum muss der Rentner bangen: Die Ärzte haben ihn bereits darauf vorbereitet, dass er wegen seines Diabetes den ganzen Fuß oder gar den Unterschenkel verlieren könnte. „Es ist wahnsinnig zermürbend, dem eigenen Fuß beim Verschwinden zuzusehen“, sagt Reimers.
Diese Erfahrung teilt der ehemalige Heizungsinstallateur mit vielen Diabetespatienten. Bis zu 10 von 100 Betroffenen entwickeln ein sogenanntes diabetisches Fußsyndrom, für das hartnäckige Wunden unterhalb des Knies typisch sind. Mangelnde Durchblutung und Infektionen verhindern, dass die Verletzungen heilen. Oft stirbt Gewebe ab.
Rund 40.000 Amputation sind aus diesem Grund jährlich in Deutschland nötig – damit ist das diabetische Fußsyndrom die häufigste Ursache für nicht unfallbedingte Amputationen. Auch Reimers glaubte lange, nichts gegen sein Schicksal tun zu können. Entsprechend verzweifelt war er, als er im Mai 2020 erneut eine wunde Stelle an seiner Fußsohle entdeckte. Etwa zur gleichen Zeit erzählte ihm ein Freund, er habe von einem neuen Verfahren zur Wundheilung gehört: Kaltplasma.
Stark gegen Keime
„Kaltplasma hat zwei Eigenschaften, die für die Wundheilung überaus interessant sind“, erklärt Ole Goertz, Chefarzt der Klinik für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie am Martin-Luther-Krankenhaus in Berlin. „Einerseits tötet es selbst antibiotikaresistente Bakterien und obendrein Viren und Pilze zuverlässig ab. Und zudem fördert es heilende Prozesse im Gewebe. Es verbessert zum Beispiel die Sauerstoffversorgung, regt die Teilung von Zellen und damit die Neubildung von Gewebe und Gefäßen an“, so der Mediziner.
Die exakten Wirkmechanismen werden noch erforscht, der Effekt selbst ist bereits gut belegt. Eine 2020 im „Journal of the American Medical Association“ publizierte Studie etwa zeigt, dass sich die Wundoberfläche bei Patienten mit diabetischem Fuß nach zweiwöchiger Behandlung mit Kaltplasma im Schnitt um fast 70 Prozent reduzierte – bei Menschen, denen mit der Standardtherapie allein nicht zu helfen war.
Das deckt sich mit den Erfahrungen des Berliner Wundexperten Goertz, der Kaltplasma bereits seit 2016 für akute wie auch chronische Wunden nutzt. Vor allem bei Stellen, die teils jahrelang offen waren, seien die Ergebnisse überzeugend. „Ich konnte damit schon viele Wunden zur Abheilung bringen, die auf nichts mehr angesprochen hatten“, erzählt der Chirurg.
Dennoch ist der Kreis der Kliniken, die mit der Methode arbeiten, bisher überschaubar. Das Verfahren ist verhältnismäßig neu, teuer und erst seit 2020 sind etwa sogenannte PlasmaPatches durch die Krankenkassen erstattungsfähig. Zu den Häusern, die es bereits einsetzen, gehören etwa die Berliner Charité, das Universitätsklinikum Essen, das Kreiskrankenhaus Passau und das Berliner Martin-Luther-Krankenhaus, an dem Goertz tätig ist.
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Der Strom fließt lautlos
Diabetespatient Eckhard Reimers fand eine Behandlungsmöglichkeit ganz in der Nähe seines Heimatorts in einem Wundzentrum, das ambulant mit Kaltplasma arbeitet. Bei MeckCura in Güstrow setzt man neben der klassischen Versorgung chronischer Wunden – Reinigen, Salben, Verbandswechsel – auch auf Kaltplasma.
Seit Kurzem arbeiten die Mediziner dort mit einem Gerät, das über ein Kabel mit einer Art Silikonpflaster verbunden ist. Darin verlaufen hauchfeine Leitungen, die mit Strom versetzt werden und so die Luft zwischen Haut und Pflaster mit Energie aufladen. Entwickelt hat diesen Plasmacube ein Team um einen Mann, der 120 Kilometer weiter östlich in seinem Greifswalder Büro sitzt: Carsten Mahrenholz, Wissenschaftler, Gründer und Geschäftsführer des Unternehmens Coldplasmatech.
„Plasma ist eine Mixtur aus Licht, UV-Strahlung, geladenen Teilchen, reaktivem Sauerstoff und Stickstoff. Oder einfacher ausgedrückt: ein sehr energiereiches Gas“, erklärt der 41-Jährige. Neben fest, flüssig und gasförmig gilt Plasma als vierter Aggregatzustand. Es kommt in Blitzen oder Polarlichtern vor, auch die Oberfläche der Sonne besteht daraus. Kühler und künstlich hergestellt kommt es bislang vorwiegend in der Raumfahrt, in Bildschirmen, Leuchtmitteln, Solarzellen und Schaltgeräten zum Einsatz. Vor allem im Bereich der Wundheilung sind die Studienergebnisse überzeugend.
Neben Coldplasmatech haben sich in Deutschland weitere Firmen etabliert, die Plasmageräte für therapeutische Zwecke in Form von Stiften, sogenannten Pens, oder als mobil einsetzbare Geräte anbieten.
Wie sich eine Plasmabehandlung anfühlt, beschreibt Patient Reimers so: „Die behandelte Stelle wird ein wenig warm und kribbelt leicht, es tut aber nicht weh.“ Auch von außen betrachtet ist die Prozedur unspektakulär: Der Strom fließt lautlos und nahezu unsichtbar. Nur ein eigenartiger Geruch verrät im Anschluss, dass die Luft über der Wunde zum Glimmen gebracht wurde.
Bei Eckhard Reimers hat das geholfen. Dreimal in der Woche wurde er für zwei Minuten behandelt, nach etwa einem halben Jahr schloss sich sein Geschwür ganz. Seitdem ist das Kaltplasma für ihn eine Art Wunderzeug.
Therapie mit Kaltplasma
Bei infizierten chronischen Wunden trägt neben konventionellen Therapien eine Behandlung mit Kaltplasma zur Heilung bei.
Technologie: Wird einem Gas Energie zugeführt, geht es in den vierten Aggregatzustand, in Plasma, über. Dabei werden in dem Gas Elektronen von Atomen getrennt - sogenannte Ionen entstehen. Kaltes Plasma, das Mediziner zu therapeutischen Zwecken einsetzen, ist etwa 37 Grad warm.
Wirkung: Kaltes Plasma tötet zahlreiche Bakterien, Viren und Pilze ab. Es regt das Wachstum neuer Hautzellen an und fördert somit die Wundheilung.
Behandlung: Die Therapie wirkt ohne Berührung oder Schmerzen. Chronische Wunden werden etwa zweimal pro Woche über einen Zeitraum von vier bis sechs Wochen mit Kaltplasma behandelt.
Kosten: Die Behandlung ist eine privatärztliche Leistung und wird noch nicht von allen gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Ausnahme sind sogenannte PlasmaPatches.
Kein Allheilmittel
Chefarzt Ole Goertz sieht das pragmatischer. „Das Potenzial ist in der Tat enorm. Kaltplasma wirkt aber nur, wenn Grunderkrankungen konsequent behandelt werden und die Indikation stimmt“, betont der Wundexperte. Für ihn ist Kaltplasma eine wertvolle Ergänzung zu konservativen und operativen Therapien. „Die Kunst der Wundbehandlung liegt ja eben darin, sich unterschiedlicher Methoden zu bedienen und die für die Situation richtige herauszufinden.“
Insbesondere mit Blick auf eine immer älter werdende Gesellschaft ist er allerdings froh um die Innovation. Schon jetzt gibt es Schätzungen zufolge rund vier Millionen Menschen mit chronischen Wunden, darunter viele mit Diabetes. Aufgrund der durch ihre Krankheit geschädigten Blutgefäße und Nerven haben die Betroffenen überdurchschnittlich oft mit Wundheilungsstörungen zu kämpfen.
Bisher konnte man dieser Patientengruppe nur unbefriedigend helfen, chronische Wunden werden häufig nicht geheilt. Jahrelang gab es auch für Eckhard Reimers keine Perspektive. Kaltplasma war bei ihm bis dahin die einzig wirksame Behandlungsmethode. Doch leider ohne dauerhaften Erfolg: Seit ein paar Wochen hat er wieder eine Wunde am linken Fuß.
Gerade wartet er deshalb auf die Zusage seiner Krankenkasse, eine weitere Plasmabehandlung zu bezahlen. Reimers hofft, dass der Papierkram bald erledigt ist und die Entzündung im Gewebe sich nicht weiter ausbreitet. „Aber alleine zu wissen, dass es etwas gibt, was mir hilft, ist eine große Entlastung“, sagt er und hält kurz inne: „Ich würde nämlich gerne noch eine Weile auf zwei Beinen durchs Leben gehen.“