Für die Hundebesitzer, die frühmorgens an der Münchner Isar ihre Vierbeiner ausführen, ist es längst ein gewohnter Anblick. Ein Grüppchen meist jüngerer Frauen und Männer schält sich am Flussrand aus den Daunenmänteln, tappst mit Badehose und Mütze bekleidet in das winterlich kalte Gewässer und taucht bis zum Kinn im Wasser unter. Zurück am Ufer rubbeln sich die Rothäute trocken, schlüpfen rasch in die abgelegten Klamotten und ziehen ihres Weges ...
Kälte ist das neue Vitamin C. Nach diesem Motto sollen Eisbaden, aber auch Schneetreten oder das klassische Wechselduschen das Immunsystem stimulieren, mehr Abwehrzellen zu bilden. Die Hoffnung: Erkältungen und andere Atemwegsinfekte treten seltener auf. Außerdem soll das absichtlich erduldete Frieren die Anpassungsfähigkeit der Arterien trainieren und auf diese Weise das Herz-Kreislauf System stärken.So wirken bereits geringe Kältereize
Es ist das Dilemma vieler Naturheilanwendungen. Ihre Anhänger schwören auf die Erfolge, doch die wenigen Untersuchungen zum Thema genügen häufig nicht den Maßstäben der Wissenschaft. Oder die Studien können die erhofften Effekte nicht belegen. Unstrittig ist immerhin, dass Kaltduschen oder selbst Winterspaziergänge langfristig die Thermoregulation des Körpers trainieren. Der Wärmehaushalt passt sich schneller an die Umgebung an, der Mensch friert nicht so leicht.
„Man kann sich schon nach wenigen, kurzen Expositionen an die Kälte adaptieren“, sagt der auf Kälteforschung spezialisierte US Physiologe John Castellani vom United States Army Research Institute of Environmental Medicine.
Akzeptiert man kleinere Studien als Hinweisgeber auf mögliche positive Effekte, dann scheinen dosierte Kältereize Erstaunliches zuwege zu bringen. Das zeigt auch ein Experiment, das Forscher der holländischen Universität Maastricht jüngst auf dem jährlichen Kongress der Fachgesellschaft European Association for the Study of Diabetes (EASD) vorstellten.
Die Wissenschaftler hatten eine Gruppe von 15 übergewichtigen Männern und Frauen an zehn aufeinanderfolgenden Tagen jeweils eine Stunde lang in einen allmählich von 32 auf 10 Grad heruntertemperierten Kälteanzug gesteckt, so lange, bis die freiwilligen Teilnehmer zu zittern begannen. Sowohl vor der ersten Kälteapplikation als auch nach der letzten bestimmten die Forscher eine Reihe von Blutwerten. Mit erstaunlichen Resultaten: Glukosetoleranz und Nüchternblutzucker verbesserten sich unter der Bibbertherapie leicht, die Konzentration an Blutfetten sank deutlich um bis zu einem Drittel. Auch der systolische und diastolische Blutdruck fielen drastisch um durchschnittlich 10 mmHg beziehungsweise 7 mmHg. Dieses Ergebnis entspricht dem Effekt von regelmäßigem Ausdauersport.
FOCUS-GESUNDHEIT 01/23
Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in der Ausgabe Besser leben. Weitere Themen: Studien belegen den gesundheitlichen Gewinn von Kaffee, neue Medikamente reduzieren Übergewicht. U.v.m.Zum E-Paper-Shop
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Kälteeffekte durch Arzneien
Der Frost und das Fett
Unsere Fettzellen bilden eine Isolierschicht gegen Kälte und wandeln Energie in Wärme um.
- Mehr als 90 Prozent des Körperfetts bestehen aus weißen Fettzellen. Diese Adipozyten dienen als Energiespeicher und halten als Unterhautfettgewebe die Körperwärme im Inneren.
- Braune Fettzellen hingegen haben die Aufgabe, Wärme zu erzeugen. Sie werden durch Kältereize aktiviert.
Kälteeffekte durch Kyrotherapie
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Kneipp-Güsse scheinen zu wirken
Ähnlich wie die Kryotherapie stehen auch Kneipp-Behandlungen mit ihren Wasserkuren gegenwärtig auf dem Prüfstand. An der Berliner Charité etwa arbeitet Benno Brinckhaus, Internist und Professor für Naturheilkunde, an einer systematischen Übersichtsarbeit zur Evidenz der Hydrotherapie. Die Arbeit soll 2023 publiziert werden. Laut einem vorläufigen Resümee, das 2022 in der Zeitschrift „Die innere Medizin“ erschien, stehen die Zeichen für den Wirksamkeitsnachweis gut. „Bereits vorliegende Studien weisen auf positive oder signifikante Effekte hin“, so die Autoren.
Demnach helfen regelmäßige Kaltgüsse tatsächlich bei Erkrankungen wie Venenleiden, Bluthochdruck, Erkältungsanfälligkeit oder Schlafstörungen. Fans von Wechselduschen oder Eisbaden sind von den gesundheitsförderlichen Effekten der Abhärtung ohnehin längst überzeugt. Dazu trägt vermutlich auch der Umstand bei, dass intensive thermische Reize das Wohlbefinden wie auf Knopfdruck erhöhen. Hat man sich erfolgreich überwunden, führt der kurze Kälteschock zu einem Ausstoß am Wachmacher Adrenalin und Endorphinen, den Botenstoffen der Freude.Der Kälte-Knigge
So wird das frostige Erlebnis zum Erfolg:
- Abchecken: Neulinge sollten den Arzt fragen, bevor sie sich intensiven Kältereizen etwa beim Eisbaden aussetzen. U. a. bei Durchblutungsstörungen ist Kältetherapie tabu.
- Ausbauen: Kältetoleranz ist Übungssache. Untrainierte starten am besten mit Wechselduschen oder Kneipp-Güssen.
- Aufwärmen: Für alle Kälteerlebnisse gilt: Der Körper darf weder vorher noch hinterher auskühlen, sonst drohen Infekte.