Es gibt Dinge, ganz alltägliche, die Michael Lorenz auskostet. Der Zimmermann, der früher von Baustelle zu Baustelle hetzte, folgt dann seinem Kater rüber aufs Feld hinterm Haus und schaut ihm beim Erkunden zu. Manchmal vergeht mehr als eine Stunde, das Handy liegt so lange auf der Ladestation.
Die Diagnose „Herzmuskelentzündung“ hat Lorenz’ Leben verändert, „eigentlich zum Besseren“, wie er sagt. Sein entschleunigtes Dasein empfindet er heute als Bereicherung. Davor lag eine enorm belastende Zeit mit einem Herz, auf das er sich nicht mehr verlassen konnte. „Ohne professionelle Hilfe hätte ich das nicht geschafft.“ Die jahrelange Schufterei, das ewige Funktionieren und dazu eine Autoimmunerkrankung macht der 61-Jährige für sein angegriffenes Herz verantwortlich. „Es war halt immer viel, zu viel“, so Lorenz. „Ich war für andere da, weniger für mich selbst.“Psychosozialer Stress: Definition und Ursachen
Stress fördert das Auftreten einer kardiovaskulären Erkrankung und verschlechtert deren Verlauf. Er sorgt dafür, dass der Blutdruck ansteigt. Dauerstress kann so eine koronare Herzkrankheit, Herzschwäche oder Herzrhythmusstörungen verursachen. Menschen, die sich stark unter Druck fühlen, erleiden nachweislich häufiger Infarkte als andere. „Auch Personen, die an einer Depression erkrankt sind, entwickeln häufiger eine Herzschwäche oder koronare Herzerkrankung“, sagt Kindermann. Unter psychosozialem Stress versteht man Belastungen, die Seele und Umfeld eines Menschen betreffen: Arbeit, Wohnsituation, finanzielle Lage, Beziehungen oder Einsamkeit. Auch Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen zählen dazu. Geraten wir in Stress, schaltet der Körper auf Energiebereitstellung um – an sich eine sinnvolle Anpassungsreaktion. Diese Aktivierung kann beflügeln, antreiben, Ausdauer verleihen. Zu viel Stress dagegen bringt Überforderung mit sich, was sich in Sorgen, Ängsten, Nöten und Erschöpfung äußert.„Nur diese Form von Stress macht krank“, betont Karl Heinz Ladwig, Professor für Psychosomatische Medizin und Psychologische Medizin an der TU München. „Dickfellige, robuste Menschen sind, selbst wenn sie extrem viel auf der Agenda haben, tatsächlich bessergestellt.“ Ob etwas als strapaziös empfunden wird oder nicht, bestimmen zudem die eigene Wahrnehmung, Bewertung und Einstellung sowie die Fähigkeit, mit Belastungen umzugehen.
Was auch der jeweilige Stressor ist – auf den Körper wirkt er stets gleich. „Der Biologie ist egal, ob der Auslöser für die Stressreaktion ein Ehekonflikt ist, in dem jemand hoffnungslos verheddert ist, eine Mobbingsituation im Job oder eine depressive Episode“, sagt Ladwig.
Chronischer Stress beeinflusst den Organismus auf mehreren Ebenen – über Hormone, das Nervensystem und Entzündungsprozesse. Die Nebenniere schüttet die Stresshormone Adrenalin und Cortisol aus. Der Blutdruck geht hoch, der Puls steigt, die Blutgefäße verengen sich. Komplexe Prozesse, bei denen Entzündungsbotenstoffe eine Rolle spielen, greifen die Gefäßinnenhaut an, das sogenannte Endothel. Der Hauptfaktor für die Entstehung einer koronaren Herzerkrankung, bei der sich die Herzkranzgefäße verengen, ist die Eröhung des schädlichen LDL-Cholesterins. Dieses Blutfett führt zu Ablagerungen im Endothel. „Das Ganze wird vom Körper mit einer Entzündungsreaktion beantwortet, die bis zum Gefäßverschluss führen kann“, sagt Malte Meesmann, Professor für Kardiologie und Psychokardiologie aus Veitshöchheim.Stress aktiviert die inflammatorischen Prozesse, wie man aus Untersuchungen weiß. „Das geht so weit, dass sich die Klebrigkeit von Blutplättchen erhöht und Knochenmarkszellen in die Gefäßinnenhaut einwandern und zu Plaquebildungen führen“, weiß Meesmann. Das ganze Endothel werde in Habachtstellung gebracht. Vermutlich ist dies ein uralter Reflex – eine Antwort des Körpers, wenn unsere Urahnen durch Tiere in Gefahr gerieten. Verletzungen wirkten sich weniger schwerwiegend aus, wenn das Entzündungssystem und möglichst viele Gerinnungsfaktoren aktiviert wurden, um ein Verbluten zu verhindern. „Diese Reaktion läuft immer noch ab, auch wenn sie gar nicht mehr sinnvoll ist“, so Meesmann. Als besonders problematisch gilt daher chronischer Stress, da er zu anhaltenden Entzündungsreaktionen führt.
In fordernden Zeiten ändert sich zudem unser Verhalten: Wir bewegen uns weniger, essen achtloser, schlafen kürzer, greifen eher zu Zigarette und Alkohol. „Allein das veränderte Gesundheitsverhalten hat zur Folge, dass herzschädigende Risikofaktoren weiter zunehmen und Herz-Kreislauf-Krankheiten entstehen“, sagt Kardiologin Kindermann.
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Psychosozialen Stress erkennen und gegensteuern
Laut Experten geht einem Herzinfarkt oft eine Erschöpfungsdepression voraus. „Meist wird dann eine vitale Erschöpfung gefunden“, sagt Psychokardiologe Meesmann. Bei Betroffenen macht sich Müdigkeit breit, es kommt zu Schlaf- und Konzentrationsstörungen und dem Gefühl, den Aufgaben nicht mehr gewachsen zu sein. „Der Alltag wird schleichend immer anstrengender.“ Dann sei es wichtig, nicht einfach mit noch mehr Kraftaufwand gegenzuhalten, sondern mit seinem Arzt darüber zu sprechen und für Entspannung und Ausgleich zu sorgen.Verfahren wie MBSR-Achtsamkeitstraining, Yoga und progressive Muskelentspannung regulieren nachweislich Herzfrequenz, Blutdruck und Atmung. Bewegung ist ein weiterer mächtiger Stressdämpfer. „Niemand muss nach jedem Streit eine halbe Stunde joggen, aber regelmäßige körperliche Aktivität baut Stress ungemein effektiv ab“, betont Meesmann. „Wer das schafft, hat eine wesentlich bessere Ausgangsbasis.“
Übung: Der Körper als Seismograf
Wer Empfindungen gut wahrnimmt, kann in Stresssituationen früh gegensteuern. Die Bodyscan-Meditation (zum Downloaden z. B. unter tk.de) stärkt das Körperbewusstsein. Dabei erforscht man für etwa 25 Minuten den Körper von der Fußsohle bis zum Scheitel und spürt in ihn hinein.
So geht’s: Bequem auf den Rücken legen, Arme neben dem Körper, Augen geschlossen. Die Aufmerksamkeit nun auf den Bauchraum richten und beobachten, wie er sich mit dem Atem hebt und senkt. Dann den Fokus in den linken Fuß lenken und mit dem großen Zeh die achtsame Reise beginnen. Nacheinander Füße, Unterschenkel, Knie, Oberschenkel, Hüfte, Gesäß, Bauch usw. bewusst wahrnehmen. Auf alle Empfindungen achten, ohne diese zu bewerten. Es geht darum zu beobachten, was in diesem Augenblick ist – und es so anzunehmen. Am Schluss spüren, wie sich der Körper als Ganzes anfühlt, und noch einmal bewusst auf den Atem konzentrieren. Möglichst täglich üben.
"Schöne Erlebnisse zelebrieren, tanzen, auch mal kindisch sein"
Der Stressforscher Karl Heinz Ladwig weiß, was das Herz gesund hält.
Prof. Karl Heinz Ladwig, Professor für Psychosomatische Medizin und Psychologische Medizin an der Technischen Universität MünchenAn der Redewendung „Optimisten leben länger“ ist viel dran. Inzwischen ist wissenschaftlich belegt, dass eine positive Lebenseinstellung einen günstigen Effekt auf das Herz-Kreislauf-System hat. Auch ein guter Rhythmus im Leben, eine Balance zwischen Anspannung und Entspannung schützt das Herz.
Ganz klar hilft Bewegung: Körperliche Aktivität bessert die Lebensqualität und hellt die Stimmung auf – Joggen zahlt sich also doppelt aus. Und: Schöne Erlebnisse sollte man zelebrieren, nicht einfach vorbeiziehen lassen. Auch Regression ist ein starker Stresskiller.
So nennt man in der Psychologie das Zurückfallen auf frühere Stufen der geistigen Entwicklung. Übersetzt heißt das: auch mal kindisch sein, Quatsch machen, wild tanzen.
Ein wichtiger Punkt ist Distanzierung. Es lässt sich üben, gedanklich einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen: Ist das wirklich so wichtig, was ich hier jetzt mache? Was ist mein Anteil daran, an dieser Auseinandersetzung etwa? Das hilft dabei, weniger zu verkrampfen und sich nicht in einem unlösbaren Knäuel von negativen Erwartungen und Konflikten zu verstricken.
Interview: Carolin Binder
Mehr Selbstfürsorge wagen
Nur wer Gefühle wie Ärger, Frust, Wut wahrnimmt, kann die Spannung, die diese erzeugen, abbauen. Das ist nicht immer leicht. „Besonders zwischenmenschliche Konflikte, die lange bestehen, bedeuten oft großen chronischen Stress, mit all seinen biologischen Folgen“, sagt Jennifer Kennel, Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik an den SHG-Kliniken Völklingen.„Je nachdem, wie ein Mensch geprägt worden ist als Kind, was die Eltern vorlebten, welche Lebenserfahrungen er in frühen Jahren sammelte, hat er eventuell Schwierigkeiten, Gefühle auszudrücken oder zu erspüren.“ Folglich ließen sich auch Bedürfnisse, auf die Gefühle hinweisen, nicht erfüllen.
Im Rahmen einer Verhaltenstherapie lässt sich diesen Zusammenhängen nachgehen. Wer oft in belastende Stresswogen gerät, kann durch mehr Selbstfürsorge aktiv gegensteuern. „Es geht darum, innere Achtsamkeit zu lernen“, sagt Psychiaterin Kennel, „überhaupt zu merken, an welchem Punkt man nervös oder ärgerlich wird.“ Frühe Intervention hilft dann dabei, die seelische Schieflage auszugleichen. „Das kann ein Spaziergang sein, frühes Zubettgehen oder das Lieblingsessen, das man sich kocht.“ Der Leitfaden lautet: tun, was Freude bereitet.Für Menschen, die sich stets zuerst um andere kümmern und ein hohes Verantwortungsbewusstsein haben, kann sich Selbstfürsorge zunächst befremdlich anfühlen. Expertin Kennel: „Man sollte diese Zeit wie Zähneputzen als Hygienemaßnahme für die Psyche verstehen. Als Chance, so immer wieder in die eigene Mitte zurückzufinden.“
Weitere Infos
- Psychokardiologische Selbsthilfegruppen – z. B. in Leipzig, München, Regensburg, Berlin, Nürnberg, Jena (auch Online- Formate) – finden Sie unter herz-ohne-stress.de
- Informationsportal Psychokardiologie psychokardiologie.org listet Adressen von Ärzten, Psychotherapeuten und klinischen Einrichtungen mit psychokardiologischem Schwerpunkt. Zudem gibt es Verweise auf einschlägige Literatur, Leitlinien, Fortbildungsangebote für Ärzte und Psychologen sowie kardiologische Selbsthilfeeinrichtungen.