Frau Prof. Giel, Sie haben durch Zufall entdeckt, dass Virtual Reality bei Magersucht helfen könnte. Wie sind Sie auf die Therapieidee mit VR-Brillen gekommen?
Wir wollten zunächst herausfinden, ob Menschen mit Magersucht ein Wahrnehmungsproblem haben. Also, ob sie in den Spiegel schauen und sich übergewichtig sehen, obwohl sie eigentlich sehr dünn sind. Dazu haben wir Patientinnen Avatare mit unterschiedlichen BMIs (Body-Mass-Index) gezeigt und ihnen die Aufgabe gegeben, den rauszusuchen, der ihrer Figur entspricht. Zu unserer positiven Überraschung konnten die Studienteilnehmerinnen den passenden Avatar benennen. Sie scheinen also kein Wahrnehmungsproblem zu haben, sonst hätten sie einen dickeren Körper gewählt. Aus ethischen Gründen haben wir auch abgefragt, wie sich die Frauen vor und nach dem Experiment fühlen und festgestellt: Sie gehen mit einem hohen Angstlevel in den Versuch hinein, doch hinterher war die Angst geringer. So kamen wir auf die Idee, Magersüchtige mit einer Konfrontationstherapie zu behandeln, ähnlich wie bei Angststörungen.Es geht also bei der Virtual-Reality-Therapie darum, Ängste abzubauen?
Genau. Die Angst zu reduzieren, ist das Hauptziel der Behandlung. Bei Patientinnen mit Magersucht ist die Angst vor der Gewichtszunahme, die sogenannte Gewichtsphobie, ein großes Problem. Sie sind in Therapie, um zuzunehmen und die Essstörung zu überwinden, aber sie haben wahnsinnige Angst davor. Teilweise löst schon die Vorstellung, 100 Gramm zuzunehmen Panik aus. Natürlich behandeln wir die Angst vor der Gewichtszunahme auch in der Psychotherapie. Aber wenn die Betroffenen in der Virtual Reality erleben, wie ihr Körper tatsächlich wirkt und wie sie mit Normalgewicht aussehen könnten, kann das zusätzlich helfen, um die Ängste abzubauen, auf andere Art und Weise als nur darüber zu reden.Das heißt, Ihre ersten Studienergebnisse zur VR-Behandlung bei Magersucht sind vielversprechend?
Ja. Wir haben die VR-Therapie in einer Pilotstudie mit 20 Patientinnen getestet. Die Konfrontation mit einem höheren Körpergewicht in der Virtual Reality hat bei den meisten von ihnen Angst ausgelöst. Bei einem Großteil der Teilnehmerinnen konnten wir die Gewichtsphobie nach vier Sitzungen reduzieren und sie haben eine positivere Einstellung zu ihrem Körper bekommen. Trotzdem lässt sich daraus noch nicht der Schluss ziehen, die Therapie sei wirksam. Dazu müssen wir nun eine größere Studie mit mehr Patientinnen und einer Kontrollgruppe durchführen.
Für uns war aber erst einmal wichtig herauszufinden, ob die Therapie sicher ist. Wir haben keine negativen Effekte festgestellt. Positiv ist auch, dass die Patientinnen großes Interesse an der Behandlung gezeigt haben.
Für Männer kommt die Therapie nicht in Frage?
Doch, aber wir fokussieren uns erstmal auf Frauen, weil Magersucht bei ihnen deutlich häufiger auftritt. Bei Männern geht es um etwas andere Körperideale. Muskularität spielt eine wichtige Rolle.
Könnte die VR-Therapie noch weitere Probleme der Magersucht adressieren?
Es ist gut vorstellbar, dass Virtual Reality auch helfen könnte, an der Körperbildstörung der Patientinnen zu arbeiten. Magersüchtige Frauen haben einen sehr dünnen Idealkörper. Das haben wir auch mit dem VR-Experiment herausgefunden. Gesunde Frauen sehen einen perfekten Körper bei einem BMI von etwa 19,5 – schlank, aber in einem gesunden Spektrum. Betroffene mit Essstörung wählen einen Body-Mass-Index von 15 als ideal. Also einen sehr dünnen Körper in einem ungesunden Bereich.
BMI berechnen
Der BMI (Body-Mass-Index) ist ein gängiges Maß zur Einschätzung des Gewichts. Damit lässt sich einfach berechnen, ob man Normalgewicht hat, unter- oder übergewichtig ist. Der BMI berechnet sich über die folgende Formel:
BMI = Körpergewicht : (Körpergröße)2
Im Internet findet man BMI-Rechner, in die sich die Variablen direkt eintragen lassen, etwa von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: www.bzga-essstoerungen.de
Wie läuft die Therapie mit Virtual Reality bei Magersucht ab?
Wichtig war, dass wir eine möglichst realistische Situation schaffen, damit das sogenannte ownership zustande kommt. Das bedeutet, die Patientinnen müssen das Gefühl haben, sich selbst und nicht einen Avatar in der Virtual Reality zu sehen.
Deshalb haben wir eine Umkleide gewählt, die sich in einer Boutique befinden könnte, mit zwei bodentiefen Spiegeln, frontal und seitlich. Denn Magersüchtige machen häufig das sogenannte Body-Checking. Mehrmals täglich gehen sie auf eine Toilette, ins Badezimmer oder in eine Umkleide und prüfen ihren Körper im Spiegel.
An Armen und Hüften der Patientinnen bringen wir Bewegungstracker an. Zusätzlich bekommen sie jeweils einen Controller in die Hand. Damit können sie sich vor den Spiegeln bewegen und anfassen und das bildet die VR nach. Durch Sensoren in der Brille werden die Kopfbewegungen und die damit verbundenen Sichtfelder angepasst.
Der Avatar basiert auf einem Modell, das mit künstlicher Intelligenz arbeitet und von unseren Kollegen am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme entwickelt wurde. Mehrere Tausend Menschen wurden gescannt, um Körper zu generieren. Wir stellen die Körpergröße, das Alter und die Haarfarbe ein. Welches Gewicht wir wählen, besprechen wir vorab mit der Patientin. Das reicht schon, damit die Teilnehmerinnen das Gefühl haben, es könnte ihr Körper sein.
Studien zeigen, Essstörungen nehmen allgemein zu. Womit hängt das zusammen?
Das ist ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren. Sicherlich trägt die zunehmende Mediennutzung sowie das dort vermittelte, unrealistische Körperbild dazu bei. Während der Corona-Pandemie haben wir zudem einen deutlichen Anstieg bei Magersucht und Essstörungen wie Binge-Eating gemessen. Isolation und sozialer Rückzug sind Stressfaktoren, gerade bei jungen Menschen. Und Stress ist eng verknüpft mit der Regulation des Essverhaltens. Manche essen dann mehr, andere verspüren Appetitverlust.Wäre es denkbar, die VR-Therapie auch bei anderen Essstörungen als der Magersucht einzusetzen?
Ja. Wir beschäftigen uns auch mit VR und Adipositas. Dabei handelt es sich zwar primär um keine Essstörung, aber Psyche und Gewicht spielen ebenso eine Rolle. Hier geht es darum, die Motivation für das Abnehmen zu steigern: Wie könnte der Körper aussehen, wenn ich Gewicht verliere? Viele Betroffene haben auch ein sehr negatives Körperbild, an dem wir in der Virtual Reality arbeiten könnten. Bei der Binge-Eating-Störung sehen wir oft einem Teufelskreis. Betroffene essen lange nichts, da sie Gewicht verlieren wollen, bekommen dadurch aber Heißhunger und einen Essanfall, was die negativen Gefühle verstärkt.Könnte Magersucht zukünftig mit der VR-Therapie geheilt werden?
Die VR ist ergänzend gedacht, in einem multimodalen Behandlungsansatz, der verschiedene Therapiebausteine wie Psychotherapie, Ernährungstherapie und Spezialtherapien wie Kunst- und Musiktherapie mit VR kombiniert. Wir wollen den Therapieansatz weiterverfolgen und ausbauen, weil wir ihn für sehr vielversprechend halten.
Quellen
- Giel K E et al.: Virtual Reality Exposure to a Healthy Weight Body Is a Promising Adjunct Treatment for Anorexia Nervosa; Psychother Psychosom; 2023; DOI: 10.1159/000530932
- Online-Informationen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA): www.bzga-essstoerungen.de; Abruf: 15.10.2024