Die Zahl der Menschen, die sich für geschlechtsangleichende Maßnahmen entscheiden, nimmt stetig zu. Dabei spielt die Hormontherapie eine zentrale Rolle. Denn sie hilft dabei, die körperlichen Merkmale an die empfundene Geschlechtsidentität anzupassen.
Wie die Hormontherapie abläuft und welche Herausforderungen sie mit sich bringt, erklärt Prof. Dr. Jörg Bojunga im Interview.
Herr Bojunga, die Nachfrage nach geschlechtsangleichenden Hormontherapien ist seit einigen Jahren drastisch angestiegen. Warum?
Eine plausible und hoffnungsvolle Erklärung wäre, dass unsere Gesellschaft offener geworden ist und Betroffene weniger Angst haben, sich zu outen – was durch Daten aus den Niederlanden gestützt wird. Die zeigen, dass die Zahl der sogenannten ‚Regretter‘, also Menschen, die ihre Entscheidung zur geschlechtsangleichenden Therapie bereuen, über die Jahrzehnte hinweg konstant geblieben ist. Die niedrige und stabile Rate an Regrettern spricht dafür, dass wir die richtige Diagnose stellen, die Betroffenen sich gut versorgt fühlen und offen mit ihrer Identität umgehen können, auch wenn wir es nicht mit absoluter Sicherheit wissen.
Kommen eher junge oder ältere Personen zu Ihnen in die Praxis? Können Sie ungefähre Zahlen nennen?
Also vor 20 Jahren, als ich angefangen habe, da waren es immer ältere Leute. Das lag aber nicht daran, dass es Geschlechtsinkongruenz (Anmerkung der Redaktion: So nennen Ärzt:innen den Zustand, bei dem sich Personen nicht mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren) in jungem Alter nicht gegeben hätte. Die Betroffenen wussten das auch damals schon früh, aber die Angst, sich zu melden war noch größer als heute. Das sind furchtbare Leidensgeschichten. Das hat sich zum Glück gebessert – die Leute sind jünger geworden. Aus meiner Sicht liegt das beste Alter für eine erfolgreiche Behandlung irgendwo zwischen 16 und 18 Jahren, umso später, desto schlechter.
Wie sicher ist die Diagnose?
Anders als allgemein angenommen, können wir diese Diagnose bei Erwachsenen mit großer Gewissheit sicher stellen. Wenn sie feststeht, kommen die Personen zu mir. Ich überprüfe, ob ich die Entscheidung plausibel nachvollziehen kann. Anschließend führe ich noch einige Untersuchungen durch, um sicherzustellen, dass keine Grunderkrankungen vorliegen. Danach erfolgt die umfassende Aufklärung der Personen. Wenn sie volljährig sind, unterschreiben sie nach einer Bedenkzeit, und wir beginnen mit der Therapie.
Wie unterscheidet sich die Diagnosestellung bei Minderjährigen?
Das Mindestalter für geschlechtsangleichende Hormontherapien in Deutschland liegt bei 16 Jahren. In Ausnahmefällen kann die Behandlung bereits ab 15 Jahren beginnen. Bei Jugendlichen ist der Diagnoseprozess komplexer als bei Erwachsenen, da die Entscheidung für eine geschlechtsangleichende Therapie emotional und rechtlich besonders sensibel ist.
Unter anderem, weil die Eltern mit einbezogen werden müssen?
Ja. In diesen Fällen müssen alle Erziehungsberechtigten einbezogen werden. Wir ermutigen die Familien zu einem offenen Dialog, in dem alle Fragen und Bedenken besprochen werden können. Damit wird sichergestellt, dass die Entscheidung gut durchdacht und von allen Beteiligten unterstützt wird. Bei Jugendlichen greift das sogenannte Sechs-Augen-Prinzip: Zwei unabhängige Psychologen oder Psychiater sowie ich als behandelnder Arzt müssen die Geschlechtsinkongruenz bestätigen.
Können Jugendliche so eine weitreichende Entscheidung treffen?
Das habe ich in den letzten zwanzig Jahren meiner Arbeit gelernt: Bereits 14- oder 15-Jährige können erstaunlich reflektiert und differenziert über ihre Situation sprechen. Die Jugendlichen verdienen unseren Respekt und das Vertrauen, dass sie die für sich richtige Entscheidung treffen.
Mit Hormonen allein ist es also nicht getan?
Genau. Die Hormontherapie ist nur ein Baustein in der Therapie, sie ist nicht der Heilsbringer. Obwohl eine geschlechtsangleichende Hormontherapie regelhaft zu einer deutlichen Verbesserung des Befindens führt, bedeutet dies nicht, dass damit alles gut wird. Hormontherapie ist nur eine Puzzleteil der Behandlung, die psychologische Betreuung ein anderes.
Wer wieviel Therapie in Anspruch nimmt, bleibt dabei jedem Patienten selbst überlassen. Nicht alle brauchen das gleiche Ausmaß an psychologischer Betreuung, auch wenn jeder, der sie möchte, Begleitung bekommen soll. Die Entscheidungsfindung bezüglich der Maßnahmen findet also partizipativ statt.
Wie sehen Sie selbst Ihre Rolle als behandelnder Arzt in diesem Prozess?
Als Arzt sehe ich mich nicht als Verbündeter meiner Patienten, sondern als kritischer Begleiter. Ich respektiere ihre Entscheidungen, aber stelle gleichzeitig kritische Fragen, um sicherzugehen, dass sie die Situation und die möglichen Konsequenzen gut durchdacht haben. Wenn die Betroffenen spüren, dass unser Hauptanliegen darin besteht, dass es ihnen besser geht, entsteht oft eine sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit. Durch diesen vertrauensvollen Rahmen gelingt es uns, sie auf ihrem Weg zu unterstützen und gleichzeitig eine verantwortungsvolle Entscheidung zu fördern.
Wie gehen Sie mit dem Risiko der möglichen Falscheinschätzung um?
Fehler können immer passieren, auch in der Medizin. Von den vielen tausend Patienten, die wir behandelt haben, lagen wir in der überwiegenden Mehrheit der Fälle richtig. Ich halte es für wichtig, dass wir uns nicht ausschließlich auf mögliche Fehler fokussieren, sondern darauf, eine gute Versorgung für die große Mehrheit der Patienten zu gewährleisten. Das größere Risiko besteht darin, nichts zu tun. Menschen mit Geschlechtsinkongruenz, die keine Behandlung erhalten, weisen eine deutlich höhere Suizidrate auf. Zu glauben, dass man keinen Schaden anrichtet, wenn man nichts tut, ist ein gefährlicher Irrtum. Tatsächlich kann man durch Untätigkeit schwersten Schaden anrichten.
Ist eine Hormontherapie vor einer geschlechtsangleichenden Operation zwingend nötig?
Nach den aktuellen Leitlinien ist eine Hormontherapie vor einer Operation nicht zwingend erforderlich. In der Praxis ist es jedoch oft sinnvoll, sie zuerst durchzuführen, da das Ergebnis dadurch verbessert werden kann. Beispielsweise führt die Hormontherapie bei Transfrauen (Anmerkung der Redaktion: Frauen, die mit männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren wurden) zwar nicht immer zu der gewünschten Brustgröße, aber sie kann das ästhetische Ergebnis einer späteren Brustoperation verbessern.
Gibt es langfristige Risiken, die mit der Hormontherapie verbunden sind?
Während wir die Effekte von Hormontherapien bei Cis-Männern (Anmerkung der Redaktion: Männer, denen bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde und die sich damit identifizieren) und Cis-Frauen gut kennen, fehlen uns langfristige Studienergebnisse für Trans-Personen. Es gibt bisher keinen klaren Hinweis auf spezifische Risiken, aber eine völlige Sicherheit können wir nicht garantieren. Bei erhöhtem Thromboserisiko bieten wir beispielsweise alternative Behandlungsformen an, wie die Verabreichung von Hormonen über die Haut, etwa in Form eines Gels, das das Risiko verringert. In bestimmten Risikosituationen können wir zusätzlich blutverdünnende Medikamente verschreiben.
Gibt es etwas, das gegen eine Hormontherapie spricht?
Entscheidend ist der sogenannte identitätsstiftende Moment der Hormontherapie. Wenn die Hormontherapie für die Trans-Person wesentlich ist, um im Einklang mit ihrer Geschlechtsidentität zu leben, spricht man von einer identitätsstiftenden Maßnahme.
Eine absolute Kontraindikation gegen eine identitätsstiftende Hormontherapie gibt es nie. Der zentrale Punkt ist, dass die Betroffenen umfassend über mögliche Risiken informiert werden, damit sie selbst entscheiden können, welche Risiken sie bereit sind, einzugehen.