Wenn Ingo Fietze nachts aus einem Traum erwacht, freut er sich über das Kopfkino. Manchmal holt er bewusst bekannte Personen in den Traum hinein oder führt die Geschichte in eine Richtung, die ihm gefällt. Luzides Träumen nennen Experten diese Technik. Der Leiter des Schlafmedizinischen Zentrums an der Charité in Berlin lenkt sich so ab – von dem Ärger, der früher oft in ihm aufkeimte, wenn er mal wieder nachts nicht schlafen konnte, und das Schlummern dann erst recht verhinderte.
„Gute Schläfer erinnern sich meist nicht an die Bilder, die ihr Gehirn beim Schlafen produziert. Sie werden morgens wach und haben von der Nacht nichts mitbekommen“, so der Schlafexperte. Als sensibler Schläfer mit gelegentlichen Schlafstörungen kann Fietze von solch seliger Nachtruhe nur träumen – und ist damit nicht allein.- Für ein Drittel der Deutschen ist Schlafen keine Selbstverständlichkeit.
- Jeder Siebte liegt länger als eine halbe Stunde wach.
- Für jeden Zweiten ist die Nacht nach sechs Stunden Schlaf vorbei.
Warum ist Schlaf wichtig für die Gesundheit?
Schlaf ist ein Multitalent und absolut notwendig, um die Funktionen des menschlichen Körpers aufrechtzuerhalten. Nachts erholt und regeneriert sich der Organismus. Mit dem Eintritt in die Tiefschlafphase sinkt die Herzfrequenz und verlangsamt sich die Atmung. Die Muskeln entspannen, und sogar die Körpertemperatur geht geringfügig runter. Andere Prozesse hingegen laufen nun auf Hochtouren: Gewebe regenerieren sich, Immunzellen werden gebildet und machen den Körper stark gegen Krankheitserreger. Bei Menschen, die dauerhaft zu wenig Schlaf abbekommen, heilen Wunden langsamer als bei gesunden Schläfern.
In manchen Bereichen des Gehirns schrumpfen die einzelnen Nervenzellen nachts um bis zu 60 Prozent, fanden die amerikanische Forscherin Lulu Xie und ihre Kollegen erst vor Kurzem heraus. Die Hirnflüssigkeit kann so wie ein Reinigungsmittel durch das Netzwerk strömen und Abfallstoffe abtransportieren, etwa Proteinablagerungen wie das Betaamyloid, welches mit der Alzheimer-Erkrankung in Verbindung steht. Ohne diese Müllabfuhr würden sich schnell toxische Stoffe mit tödlicher Wirkung im Gehirn ansammeln. Wer gar nicht schläft, stirbt.»Mangelnder Schlaf wird als Risikofaktor für Erkrankungen immer noch unterschätzt.«
(Ingo Fietze, Schlafmediziner und Leiter des interdisziplinären Schlafmedizinischen Zentrums an der Charité in Berlin)
Nicht nur Aufräumtrupps arbeiten, wenn der Mensch ruht. Das Denkorgan ist im Schlaf überaus aktiv – wenn auch auf andere Art und Weise als im Wachzustand. Die Hirnströme laufen geordneter ab als im Tages-Chaos. Der Schlafende verarbeitet die Eindrücke, die er erlebt hat. Das Gehirn entscheidet, welche Erinnerungen es bewahrt und was es als unwichtig aussortiert. Dabei verankern wir Gelerntes. In Hirnstrommessungen können Wissenschaftler zeigen, dass bestimmte Gehirnregionen nachts besonders viel arbeiten, wenn der Schläfer am Vortag neue Fähigkeiten erworben hat.
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Wieviel Schlaf brauchen wir?
Wie viel Schlaf wir brauchen, ist individuell unterschiedlich: Zwischen sechs und neun Stunden sind es bei einem Erwachsenen. Die Mehrheit kommt mit sieben bis acht Stunden aus. Auch gesunde Schläfer erleben mehrmals pro Nacht kurze Wachphasen. Gelegentliches nächtliches Aufwachen ist noch kein Grund zur Sorge. Dies währt allerdings nur wenige Sekunden, und oft kann sich der Schlafende am nächsten Morgen nicht mehr daran erinnern. Ein gutes Kriterium, um zu erkennen, ob man sich nachts ausreichend erholt hat: Einen einstündigen Vortrag sollte ein Ausgeschlafener durchhalten, ohne zwischendrin einzunicken.
Schlafprobleme sind nicht nur sehr verbreitet, sie nehmen auch stetig zu. Zwischen 2010 und 2016 stieg die Zahl der schlechten Schläfer um 66 Prozent, ermittelte die Krankenkasse DAK bei der Auswertung der Daten von 2,6 Millionen Mitgliedern. Am häufigsten rauben Ein- und Durchschlafstörungen (Insomnien) den Deutschen die nächtliche Ruhephase.
Schlafstörungen: Ursachen und wann man Hilfe suchen sollte
Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Viele finden in der 24/7-Leistungsgesellschaft nicht genügend Ruhe. „Stress ist der Schlafkiller Nummer eins“, so Fietze. Rund um die Uhr online, Mails abends noch im Bett bearbeiten, Termin- und Leistungsdruck im Job, Mehrfachberufe oder Schichtarbeit, Freizeitstress – alles Faktoren, die die Nachtruhe stören können und damit große Gefahren für das körperliche und seelische Wohlbefinden bergen. „Mangelnder Schlaf wird als Risikofaktor für Erkrankungen immer noch völlig unterschätzt“, sagt Fietze. Die Weltgesundheitsorganisation bezeichnet den Schlafmangel als eine der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts. Fällt die nächtliche Ruhephase aus, steigt die Wahrscheinlichkeit, einen Bluthochdruck zu entwickeln. Auch das Risiko für Diabetes und Krebs erhöht sich durch chronischen Schlafmangel. Depressionen können Schlafprobleme auslösen und umgekehrt. Schlechte Schläfer erkranken häufiger an Demenz und psychischen Störungen.„Schlaf ist für die Gesundheit genauso wichtig wie körperliche Aktivität und gesunde Ernährung“, erklärt Schlafmediziner Fietze. In vielen Köpfen sei das noch nicht angekommen. Wenig Schlaf gilt immer noch als Beweis hoher Leistungsbereitschaft. Spitzenpolitiker in Berlin leben dies mit ihren nächtlichen Debatten vor. Vielleicht ist das der Grund, warum Patienten bei Schlafstörungen in der Regel zu spät Hilfe suchen.
„Wer vier Wochen miserabel schläft, sollte bereits einen Arzt konsultieren“, rät Fietze. Die meisten kommen aber erst nach ein oder zwei Jahren, manche gar nach zehn Jahren zu ihm und seinen Kollegen in die Sprechstunde. Die Behandlung ist dann schwieriger. Denn Schlafprobleme können ähnlich wie Schmerzen chronisch werden.
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Was tun bei Schlafstörungen?
Kognitive Verhaltenstherapie
Solange die nächtlichen Störungen nur gelegentlich auftreten, hilft bei Ein- und Durchschlafproblemen eine kognitive Verhaltenstherapie. Die Patienten lernen, durch Achtsamkeit Verhaltensmuster zu vermeiden, die ihnen den Schlaf rauben. Die Regeln für einen möglichst erholsamen Schlaf bezeichnen Experten auch als Schlafhygiene). In der Therapie kommen etwa Entspannungsübungen zum Einsatz.App-Angebote
Schneller, als zu einem Arzt zu gehen, würden Patienten vielleicht ein App-Angebot nutzen. Ein solches Programm entwickelten britische Wissenschaftler um Colin Espie von der Oxford University. „Prof“, ein Avatar in Gestalt eines Comic-Arztes, führt durch sechs virtuelle Sitzungen von jeweils 20 Minuten Dauer. Ein Algorithmus passt das Programm individuell an den Nutzer an. Die Forscher testeten das Programm an 1.700 Insomnie-Patienten. Die Hälfte bekam zwölf Wochen lang das App-Programm. Die restlichen Probanden erhielten lediglich eine allgemeine Broschüre mit Tipps zur Schlafhygiene. Bei den Studienteilnehmern, die alle sechs App-Sitzungen absolvierten, besserten sich die Schlafstörungen auf einer standardisierten Skala zwischen 100 (massive Schlafstörungen) und null (keine) im Schnitt von 88 auf 43 Punkte. Der Effekt fiel deutlich stärker aus als bei der Kontrollgruppe (Verbesserung auf 63 Punkte). Allerdings hielten nur knapp die Hälfte der Teilnehmer die virtuelle Beratung bis zum Ende durch.
Luzides Träumen
Noch umfangreicher als eine kognitive Verhaltenstherapie ist das Schlafcoaching, welches Brigitte Holzinger, Psychotherapeutin und Leiterin des Instituts für Bewusstseins- und Traumforschung in Wien, gemeinsam mit Kollegen entwickelte. Sie integriert Traumarbeit in die Therapie. „Traumbilder können wieder in den Schlaf führen“, erklärt Holzinger.
Luzides Träumen, also das nächtliche Kopfkino bewusst zu steuern, hilft Menschen, die regelmäßig von Albträumen aus dem Schlaf gerissen werden. Albtraum-Patienten wachen schwitzend oder mit Herzklopfen auf und erinnern sich an die schrecklichen Gedankenbilder. Starker Stress oder schlimme Erlebnisse können diese Art der Schlafstörungen hervorrufen.Wer seine Träume kontrollieren möchte, lernt, Wachelemente in die nächtlichen Gedankenspiele hineinzuholen. Dazu gehört es zu reagieren, zu entscheiden oder zu planen. Das ermöglicht zum Beispiel, bewusst aus einem Albtraum aufzuwachen oder in Verfolgungsträumen stehen zu bleiben und sich umzudrehen.
„Das eigene Gedächtnis erzeugt die nächtlichen Bilder. Deshalb lassen sich Träume auch willentlich gestalten“, erklärt Holzinger. Vor dem Einschlafen programmiert sich der Träumer darauf, den Traum als solchen zu entlarven. „Viele kennen das Phänomen, kurz vor dem Wecker aufzuwachen, wenn sie zu einer bestimmten Uhrzeit aufstehen müssen. Ähnlich funktioniert luzides Träumen“, so die Traumforscherin. Am leichtesten gelinge die Technik in einer Gruppe, die sich das gemeinsame Ziel setzt, das luzide Träumen zu erlernen. Menschen mit Albträumen schaffen es meist besonders schnell, ihre Traumbilder zu steuern.
Schlaftabletten
„Wenn Schlafstörungen bereits chronisch geworden sind, wirkt die kognitive Verhaltenstherapie meist nicht mehr“, so Fietze. Von einer Insomnie sprechen Experten, wenn der Patient über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten länger als 30 Minuten zum Einschlafen benötigt, nachts aufwacht und mehr als 30 Minuten wach liegt oder nach nur vier bis fünf Stunden aufwacht und nicht mehr einschlafen kann. Dann können Schlaftabletten helfen. Weil sie einen schlechten Ruf haben, zögern Betroffene oft, sich mit medikamentöser Hilfe ins Land der Träume befördern zu lassen. Wie sich das Negativimage der Schlaftablette entwickelt hat, darüber kann auch Schlafforscher Ingo Fietze nur mutmaßen. „Ich glaube, der Hauptgrund ist, dass es keine betreuenden Ärzte gibt und nie gab.“ Schlafmediziner arbeiten vor allem in Schlaflabors an Kliniken. Niedergelassene Ärzte mit dieser Spezialisierung sind äußerst selten. Während ein Schmerzpatient einen Ansprechpartner hat, wenn das Medikament nicht mehr wirkt, führt die fehlende Beratung bei Insomnikern oft dazu, dass sie die Dosis eigenmächtig erhöhen. Wenn eine Tablette nicht mehr wirkt, sollte der Arzt aber ein anderes Präparat verschreiben.
Nebenwirkungen, die das Image der Schlaftablette ebenfalls beschädigt haben, wie Tagesmüdigkeit, lösen vor allem die alten Benzodiazepine aus. Sie werden aber bei chronischen Schlafstörungen nicht mehr eingesetzt. Neuere Wirkstoffe wie die Z-Präparate wirken kürzer und verursachen deshalb tagsüber auch keine Durchhänger.
„Bei chronischen Schlafstörungen hat die Schlaftablette aus meiner Sicht ihre hundertprozentige Berechtigung“, so Fietze. Oft sei sie die einzige Alternative, um Betroffene davor zu bewahren, ihren Job zu verlieren.
Tipps für einen gesunden Schlaf (Unser Podcast für ein gutes Körpergefühl – Folge #1)
Zu Gast im Podcast:
Ingo Fietze, Schlafmediziner, Charité BerlinIn unserer ersten Folge dreht sich alles um den gesunden Schlaf.
Wir sprechen mit Ingo Fietze darüber, was man tun kann, wenn man abends schlecht in den Schlaf findet oder mitten in der Nacht aufwacht und nicht mehr richtig einschlummern kann. Er erklärt uns, warum ausreichend Schlaf so wichtig ist und welche keinen Helferlein (Apps, Kopfkissensprays, Tracker und Co.) wirklich nützlich sind. Außerdem verrät er, wie ein Tag richtig gestaltet sein sollte, damit sich Körper und Gehirn nachts optimal erholen.
Die Zukunft des Schlafs
In zehn Jahren, so die Einschätzung des Experten, wird vielleicht ein neues Verfahren die Schlaftabletten ablösen: die tiefe Hirnstimulation. Eine Maus können Forscher schon heute mit elektromagnetischen Impulsen von einer Sekunde auf die andere in den Tiefschlaf schicken. „Das funktioniert allerdings nur, wenn man die Elektrode im Schlaf-Wach-Zentrum im Gehirn platziert“, erklärt Fietze. Beim Menschen ist der Haupttaktgeber von außen nicht erreichbar. Kappen, die die Schädeldecke elektrisch stimulieren, erzielen nicht die gewünschten Erfolge – auch wenn in den USA entsprechende Produkte bereits auf dem Markt sind. Studien mit Epilepsie-Patienten, die einen Hirnschrittmacher tragen, zeigen aber, dass sich auch beim Menschen das Schlaf-Wach-Zentrum elektrisch manipulieren lässt. „Wenn wir in Zukunft nicht von außen effektiv herankommen, dann vielleicht mit Implantaten“, sagt Schlafexperte Fietze. Bereits jetzt bekommen Fietze und seine Kollegen an der Charité in Berlin einmal im Monat eine Anfrage, ob sie einen Hirn-Chip implantieren könnten. So hoch ist der Leidensdruck mancher Schlafpatienten. „Ein guter Schläfer kann schwer nachvollziehen, wie es sich anfühlt, nachts keine Ruhe zu finden“, erklärt Fietze. „Das ist wie bei Migräne – keiner versteht, wie sich das anfühlt, außer er leidet selbst unter den Kopfschmerzattacken.“ Mehr Verständnis in der Gesellschaft kommt möglicherweise auf, wenn sich das Image des Schlafes wandelt.In den USA hat die Trendwende schon begonnen. So titelte die „New York Times“ vom Schlaf als dem neuen Statussymbol.
Dies ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in FOCUS-GESUNDHEIT „Einfach gesund leben" – als Print-Heft oder als digitale Ausgabe.