Zusammen isst man weniger allein
Berlin, eine Altbauwohnung in Charlottenburg. Unter Stuckdecken und einem Kronleuchter vom Flohmarkt tafeln acht Menschen um einen ausgeklappten Esstisch. Es gibt Hummus mit Kräuterzupfbrot, Birnen-Chicorée-Salat, Erdnusshähnchen mit Mango und Ofengemüse. Munter fließt das Gespräch von einem Thema zum nächsten. Dabei nippte die Gesellschaft eben noch schüchtern am Begrüßungscocktail. Bis passierte, was immer passiert, wenn die Gastgeberin zu ihren „Supperclubs“ lädt. Während der Vorspeisen findet die bunte Runde zusammen, beim Hauptgang beginnen die Gefühle, sich wohlig zu dehnen, und nach Mitternacht endet der Abend in Prosten und Prusten.
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Der neue Trend: Supperclubs
Knapp 50 Euro bezahlen die Teilnehmer, die über Mundpropaganda oder Internet von der Tafel erfahren haben, für das Menü. Die Hausherrin, eine Hobbyköchin und Bildhauerin mit wechselndem Ausstellungsglück, finanziert von den Events die Miete ihrer 3-Zimmer-Wohnung. Die Gäste wiederum – ein Mix aus Neuberlinern, Touristen und Einheimischen – genießen ein Erlebnis, das für viele Teilnehmer Seltenheitswert bekommen hat: ein abendfüllendes gemeinsames Essen in familiärer Atmosphäre.
Änderung der Essgewohnheiten
Bereits vor Jahren stellten Ernährungsstudien fest, dass sich die Deutschen immer weniger Zeit für die Nahrungsaufnahme in Gesellschaft nehmen. Und das betrifft nicht nur das Dinner for One in Single-Haushalten. Gestiegene Mobilität, die Auflösung traditioneller Ernährungsriten und die breite Verfügbarkeit von To-go-Menüs bedrohen vor allem Familienzusammenkünfte. Binnen zehn Jahren sank die Zahl der zu Hause eingenommenen Gerichte um drei Milliarden, ermittelte die Gesellschaft für Konsumforschung. Gerade Frühstück und Mittagessen hätten sich aus den eigenen vier Wänden nach draußen verlagert.
Die Auflösung der Mahlgemeinschaften ist ein globales Problem. In den USA sitzt bereits die Hälfte aller Familien so gut wie nie vereint am Tisch. In Asien hat die kollektive Ess-Störung ein bizarres Phänomen hervorgebracht. Beim „Muk-Bang“ futtern Koreaner live vor einer Kamera, via Internet beobachtet von Hunderttausenden Alleinessern, die dabei Unterhaltung und Trost finden. Gemeinsam schnabuliert man weniger allein – das gilt selbst online und in der Reisnudelversion. Weil die in den Videos verdrückten Portionen allerdings unvernünftig groß sind, beschloss das südkoreanische Gesundheitsministerium jüngst, Verhaltensregeln für die virtuelle Völlerei aufzustellen.
Erscheinungen wie „Muk-Bang“ oder „Supperclubs“ zeigen, dass der Hunger nach kollektiver Nahrungsaufnahme auch in spätmodernen Gesellschaften groß bleibt. Eine hoffnungsvolle Feststellung – für den Einzelnen wie für die Allgemeinheit.
- »Ich beobachte mit Sorge, dass in den Familien immer seltener zusammen gegessen wird«
(Jesper Juu, Dänischer Familientherapeut und Autor)
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Gemeinsames Essen: Warum?
Wer sich mit anderen Menschen am Tisch niederlässt, vertreibt das Gift der Einsamkeit aus seinem Körper. Die Nähe und Wärme, die das geteilte Mahl hervorruft, reduziert toxischen Stress, so eine Studie des Instituts für Psychologie der Berliner Humboldt-Universität. Auch die Gemeinschaft profitiert. Wo Gesellschaften zunehmend in Gruppen und Grüppchen zersplittern, bildet das gemeinsame Essen ein Lagerfeuer, an dem jeder seinen Platz findet. Es stiftet Einheit zwischen den Tischgenossen, erneuert Freundschaftsbande, stärkt Familien und wirkt als sozialer Kitt in Betriebskantinen und Biergärten.Der berühmte deutsche Soziologe Georg Simmel erkannte bereits vor mehr als 100 Jahren im „Sichzusammenfinden zur Mahlzeit“ den kleinsten gemeinsamen Nenner über Klassen, Rassen und Nationen hinweg. „Daß wir essen müssen, ist eine (…) so primitiv und niedrig gelegene Tatsächlichkeit, daß sie jedem Individuum fraglos mit jedem gemein ist“, schrieb der Star-Intellektuelle des Wilhelminismus in seinem Aufsatz „Soziologie der Mahlzeit“ von 1910.
Diese Bindungskraft kann sich selbst dort beweisen, wo sich die Speisenden eigentlich nicht grün sind. Darauf baut der Schweizer Verein „Cuisine sans frontières“, der es sich zur Aufgabe macht, gastronomische Treffs in Krisengebieten wie dem Libanon zu errichten. Beim Essen sollen die Gäste, die aus rivalisierenden Ortschaften stammen, Vorurteile überwinden. Aus Kontrahenten werden Kumpel, ein Wort, das sich von Kumpane ableitet und das wiederum von lateinisch „cum pane“, wörtlich: der, mit dem ich das Brot teile.
»Daß wir essen müssen, ist eine (…) so primitiv und niedrig gelegene Tatsächlichkeit, dass sie jedem Individuum fraglos mit jedem gemein ist.«
(Georg Simmel, Soziologe)
Wie jedes soziologische Gebilde ist das gemeinsame Essen den Wandlungen der Zeit unterworfen. Und wenn in Roald Dahls komischem Roman „Matilda“ die Eltern ihr Liefermenü vor dem Fernsehgerät verdrücken, indem sie „wabbelige Aluminiumbehälter“ auf den Knien balancieren, dann schildert der Autor damit das bildungsferne Milieu der Moderne.
In seinem Buch lässt Dahl, der übrigens noch lieber übers Essen schrieb als Thomas Mann, die kindliche Heldin Matilda ihre unsoliden Eltern bitten, ob sie ihre Mahlzeit nicht gesittet am Tisch einnehmen dürfe statt vor der Glotze – was die Verhältnisse ironisch auf den Kopf stellt. Denn natürlich sind es in Wirklichkeit die Kinder, die ihre Spaghetti mit Tomatensauce bevorzugt vor dem TV-Gerät futtern, während die Erziehungsberechtigten den Esstisch als Zentrum des Familienglücks verteidigen.
Essen in der Familie
Gemeinsam in der Küche schnippeln, rühren und schmurgeln, um das Menü zusammen mit Eltern und Geschwistern zu verputzen: Wer es schafft, seinen Nachwuchs für dieses Ritual zu begeistern, der gewinnt tatsächlich viel. Das Kochen und Essen auf Augenhöhe schafft Familienbindung und Inseln der guten Laune inmitten eines stressigen Alltags. Nicht zuletzt profitiert die Gesundheit der Kleinen. Studien zeigen, dass Sprösslinge, die regelmäßig mit ihren Eltern speisen, einen größeren Wortschatz entwickeln, bessere Noten nach Hause bringen und später als Jugendliche weniger Drogen konsumieren.
Wie schafft man es, dass der Esstisch nicht zum Stresstisch wird?
Der dänische Erziehungsguru Jesper Juul, der gemeinsame Mahlzeiten als Herz der Familie betrachtet, hat sich mit diesem Thema beschäftigt. In seinem 2017 erschienenen Buch „Essen kommen. Familientisch – Familienglück“ (Beltz Verlag) empfiehlt er, sich viel Zeit zu nehmen, die gute Stimmung über Benimmregeln zu stellen und das Beisammensein nicht als Gelegenheit zu nutzen, um Kritik an den Kindern zu üben.
Zu warnen ist an dieser Stelle allerdings vor der Verklärung von Mahlgemeinschaften. Kaum eine Sippschaft, die nicht erlebt hat, welche Sprengkraft ein Weihnachtsmenü im Kreis der Großfamilie entwickeln kann. Und selbst der Fondue-Abend im Freundeskreis kann zur Zimmerschlacht ausarten, sofern man den doppelten Leichtsinn begeht, einen Grünen-Wähler neben einen AfD-Anhänger zu platzieren und beiläufig das Wort „Flüchtlingspolitik“ zu erwähnen.
Also doch lieber allein essen?
Selbstverständlich ist das auf Dauer keine Lösung. Wer allzu häufig ohne Begleitung speist, riskiert nicht nur Stimmungstiefs, sondern auch schlechte Werte bei Blutdruck und Blutfetten. Das fanden Forscher der südkoreanischen Dongguk-Universität kürzlich heraus, als sie die Ernährungsgewohnheiten von mehr als 7.000 Menschen analysierten. Im Alleingang wird eben öfter zur Fertigpizza gegriffen statt zu frisch Gekochtem.
- 50% mehr Kalorien isst, wer seine Mahlzeit in der Gruppe zu sich nimmt
(Quelle: Sam Houston State University, Huntsville/Texas)
Dies ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in FOCUS-GESUNDHEIT „Einfach gesund leben" – als Print-Heft oder als digitale Ausgabe.