Eine Prähabilitation vor großen chirurgischen Eingriffen reduziert die Komplikationen um bis zu 30 bis 50 Prozent, die Krankheitsrate um bis zu 50 Prozent und die Kosten um bis zu 30 Prozent. Das Konzept lässt sich auf sämtliche Fachgebiete anwenden, in denen planbare Eingriffe stattfinden – neben der Onkologie wie in Neuperlach also auf alle Bereiche der Chirurgie wie beispielsweise Kardiologie, Orthopädie oder Urologie.
Genug Reserven für den Eingriff?
Gestartet war das therapeutische Konzept ursprünglich unter dem Begriff „Fast Track“. „Die Anästhesisten brachten das Thema auf, um Patienten besser durch die OP zu bringen und Komplikationen zu vermeiden“, erklärt Chirurgin Natascha Nüssler. Aus der Schnellspur‐Chirurgie wurde die Prähabilitation, zu der es inzwischen eine eigene Leitlinie gibt. In Nüsslers Klinik ist die „Präha“ im Rahmen eines Modellprojekts seit 2020 gang und gäbe.
Sie hilft dort vor allem Hochbetagten, Schwachen und schwer Erkrankten. „Diese Patientinnen und Patienten haben nicht unbedingt mehr Komplikationen nach einer Operation“, so Nüssler, „aber weniger Reserven, um diese gut zu überstehen.“ Maßnahmen zum Aufpäppeln gibt es reichlich. Welche zum Einsatz kommen, hängt von der Verfassung ab. „Wir screenen unsere Patienten zunächst auf Mangelernährung“, so Nüssler. Neben dem Fragebogen gibt eine Blutuntersuchung Aufschluss. Zeigt diese eine Blutarmut, bekommen Betroffene Eiseninfusionen. Ein wichtiger Aspekt ist die Muskelmasse: „Gerade Ältere bauen nach einer OP oft sehr schnell ab“, berichtet Nüssler. „Besser ist es also, von vornherein mit möglichst viel Muskelmasse zu starten.“ Deshalb wird vor dem Eingriff trainiert und ausreichend Eiweiß zugeführt.Werbung
Für jeden ein individuelles Programm
Was eine Patientin oder ein Patient wirklich braucht, entscheiden in Neuperlach Ernährungsmedizinerin Eva‐Maria Jacob und ihr Team im Einzelfall. Die Ärztin und Psychotherapeutin leitet das Präha‐Programm. „Mich überzeugt das Konzept, denn ich sehe jeden Tag, wie schnell unsere Patientinnen und Patienten nach der Operation aus dem Bett und auf die Beine kommen“, sagt sie. Aufstehen und richtig durchatmen – das sei vor allem für Ältere nach einem Eingriff wichtig, da sonst das Risiko einer Lungenentzündung steigt. Jacob lässt Wochen vor einer OP das Blut ihrer Patienten im Labor analysieren, misst deren Handkraft und bestimmt Körperfettanteil und Muskelmasse. „Sich erst nach dem Eingriff um die Nährstoffversorgung zu kümmern wäre zu spät, weil der Stoffwechsel während der OP und danach an seine Reserven geht, was sich von außen kaum beeinflussen lässt.“
Auch Abnehmen kann das Ziel sein, etwa vor dem Einsatz eines künstlichen Hüftgelenks in der Orthopädie. Weitere Maßnahmen sind die Rauch‐ und Alkoholentwöhnung oder das Erlernen von Entspannungs‐ oder Atemübungen. Der Aufwand lohnt sich auf allen Ebenen. Die Operierten gewinnen Lebensqualität – im Idealfall schon vor der Operation und auch danach, ihr Krankenhausaufenthalt verkürzt sich. Die Kliniken haben früher freie Ressourcen. Die Prähabilitation entlastet Pflegekräfte und Angehörige – und die Rentenkassen.
OP verschieben kann sich lohnen
Einen Effekt spüren sie in der München Klinik Neuperlach besonders: Seit Patienten besser auf Operationen vorbereitet werden, ist die Anzahl der benötigten Blutkonserven deutlich zurückgegangen. Das senkt das Komplikations‐ und Rückfallrisiko für Krebserkrankte, spart Kosten und schont die ohnehin raren Reserven der Blutbanken. Die Fachwelt ist sich mittlerweile einig: Prähabilitation ist genauso wichtig wie Rehabilitation. Sie ist so bedeutend, dass ihretwegen sogar Krebsoperationen verschoben werden, wenn klar ist, dass der Patient davon profitiert.
„Den Erkrankten entsteht dadurch kein Schaden“, sagt Nüssler. „Wir wissen aus der Literatur, dass ein Aufschub von bis zu vier Wochen die Prognose nicht beeinflusst. Vor allem nicht, wenn sich die Ausgangslage des Patienten in der Zeit verbessert.“ Braucht jemand vor der OP eine Chemotherapie, steht ohnehin die mehrwöchige erforderliche Pause nach der Chemo zur Verfügung. „Früher ist in dieser Zeit gar nichts passiert, die Erkrankten haben quasi zu Hause auf die OP gewartet“, erzählt die Chirurgin. „Jetzt nutzen wir die Zeit in unserer Tagesklinik, um etwa die Eisenspeicher wieder aufzufüllen, Sport zu machen oder die Ernährung anzupassen, damit der Gewichtsverlust nach der OP gering bleibt.“
Mindestens einmal pro Woche verbringen die Prähabilitanden einen ganzen Vormittag in Neuperlach. In Einzelfällen erfolgt die Präha stationär. Den Betroffenen schafft sie den Raum, sich mental auf die Operation einzustellen: „Durch das Programm fühlen sie sich nicht so ausgeliefert, sondern rundum versorgt und gut aufgehoben“, sagt Nüssler. „Sie wissen, was auf sie zukommt, und haben hier im Haus immer jemanden, an den sie sich wenden können.“ Manchmal sei sie erstaunt, sagt Nüssler, wie gut sogar sehr betagte Patienten dann große Operationen verkraften. „Ich freue mich mit ihnen, wenn sie nach zwei, drei Tagen schon wieder viel fitter sind, als sie das erwartet hätten.“ Auch ihre Kollegin Jacob kann sich ihren Job ohne Prähabilitation nicht mehr vorstellen. Die Vorbereitung, sagt sie, setze bei den Patientinnen und Patienten Kraft und Energie frei „für alles, was kommt“.
Einen Haken gibt es allerdings: Derzeit werden Prähabilitationsmaßnahmen nicht vergütet. Die Studienlage ist noch zu dünn, und Langzeitdaten fehlen. In der München Klinik Neuperlach trägt das Krankenhaus die Kosten. Nüssler konnte die Leitung von dem Konzept überzeugen. „Braucht ein Patient dank guter Vorbereitung keine Bluttransfusion oder sparen wir nach der OP einen oder zwei Tage Intensivtherapie, rechnet sich das bereits“, so die Chirurgin.
FOCUS-Gesundheit 03/24
Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in der Ausgabe Moderne Chirurgie. Weitere Themen: Was personalisierte Chirurgie für Patienten bedeutet. Gezielte Maßnahmen vor der OP reduzieren Schmerzen und Komplikationen. U.v.m.
Hier kann Prähabilitation helfen
Rebecca Abel erforscht als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Bewegungstherapie und bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation der Deutschen Sporthochschule Köln die Effekte im Bereich Orthopädie. Die Sportwissenschaftlerin hat sich auf die Vorbereitung auf Kreuzbandoperationen spezialisiert. „Weil viele erst Wochen nach einem Unfall operiert werden, kommt es zu einem Funktionsverlust. Die Verletzten sind unsicher, wie sie ihr Knie belasten dürfen, und die Muskelmasse schwindet schon vor der OP“, sagt sie. Ein individuelles Prähabilitationsprogramm soll das verhindern. „Mit bestimmten Übungen lässt sich der Muskelabbau bremsen, die Koordination erhalten, die Ansteuerung trainieren. Man gewinnt Beweglichkeit und reduziert Schmerzen.“ Derzeit erforscht Abel mit ihrem Team, welche Trainingsform – ein angeleitetes Programm vor Ort oder Übungen zu Hause – vor einer Kreuzband‐OP am wirksamsten ist.
Auch vor dem Einsatz eines künstlichen Hüftgelenks zahle sich gute Vorbereitung aus. „Durch spezielles Training durchbrechen wir den Teufelskreis aus Schmerz und Schonung und kräftigen jene Muskeln, die das Hüftgelenk stabilisieren.“ Dafür reichten einfache Übungen, die Patienten zu Hause mit dem eigenen Körpergewicht absolvieren können. „Die Betroffenen können zudem Bewegungsabläufe üben, die sie nach dem Eingriff können müssen – etwa mit Unterarmgehstützen umzugehen“, so Abel. Vor allem bei bereits gebrechlichen Älteren sieht die Wissenschaftlerin enormes Potenzial. „Wer eine OP und die Zeit danach auch im hohen Alter gut verkraftet, wird vielleicht gar nicht erst zum Pflegefall.“
Das Universitätsklinikum Frankfurt testet eine weitere Alternative: eine „Prehab‐App“ namens „Patronus“, die Patienten hilft, sich auf einen chirurgischen Eingriff im Brust‐ oder Bauchraum vorzubereiten. Die Anwendung leitet zu einem drei‐ bis sechswöchigen Ausdauertraining an, unterstützt die Erkrankten in Ernährungsfragen und erfasst ihr seelisches Befinden. Die Klinik kann ihren Fortschritt digital verfolgen und Feedback geben.
In Neuperlach beziehen Chefärztin Natascha Nüssler und Ernährungsmedizinerin Eva‐Maria Jacob oft Angehörige mit ein. „Partner oder die Kinder älterer Patienten sind froh, wenn sie etwas beitragen können – zum Beispiel beim Kochen“, so die Ärztin. Von einer guten Prähabilitation profitiere die ganze Familie.