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Mehr als Rehabilitation: Ergotherapie als Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben

Warum es bei der Ergotherapie entscheidend ist, dass Therapeut und Patient gemeinsam die Ziele der Behandlung festlegen. Plus: Ergotherapie für Long-COVID-Patienten.

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Ergotherapeutin mit kleinem Jungen an einem Spieltisch

© Getty Images

Die Ergotherapie geht individuell auf Patientinnen und Patienten ein und holt jeden dort ab, wo er oder sie steht. Dabei ist es entscheidend, dass Therapeut und Patient gemeinsam die Ziele der Behandlung festlegen, erklärt Ergotherapeut GerStrauß im Interview. Eine aktuelle Herausforderung in der Ergotherapie ist die Long-COVID-Erkrankung, die neue Herangehensweisen verlangt.

Herr Strauß, warum sind Sie Ergotherapeut geworden und was lieben Sie nach über 30 Jahren noch immer an Ihrem Beruf?

Mich begeistert die Hilfe zur Selbsthilfe und wie viel erreichbar ist, wenn man sich Zeit nimmt. Während ich als Altenpflegehelfer zehn Leute gewaschen und angezogen habe, hat die Ergotherapeutin ein oder zwei Bewohner dabei unterstützt, das wieder selbst zu können. Den Menschen Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zurückzugeben ist bereichernd und nie langweilig und entlastet am Ende auch die Pflege.

Als Ergotherapeut unterstützen Sie Menschen dabei, ihren Alltag zu meistern. In welchen Bereichen des täglichen Lebens helfen Sie?

In allen. Es geht um die Selbstversorgung, also Dinge wie Körperpflege, Kochen, Einkaufen, genauso wie um Arbeit oder Kindergarten, Schule, Ausbildung und um die Freizeit. Am Anfang steht immer ein Gespräch, in dem wir gemeinsam mit dem Klienten bzw. mit Eltern oder Angehörigen die Ziele der Therapie genau festlegen.

Gert Strauß

ist seit 1989 Ergotherapeut. Er arbeitet in seinen Praxen in Heidelberg, Ludwigshafen-Oggersheim und Wattenheim. Als Mitautor hat er ein Fachbuch über Biofeedback und Neurofeedback verfasst. Methodiken, die auch in der Ergotherapie eingesetzt werden.

Wie läuft ein Erstgespräch in der Ergotherapie ab?

Wir klären zunächst, welche Probleme der Patient hat. Dazu setzen wir auch ergotherapiespezifische Assessments ein, also standardisierte Tests und Fragebögen. Neben den Einschränkungen im Alltag, interessiert uns, welche Stärken der Klient hat – denn darin steckt oftmals Kompensationspotenzial. So kann ein Schlaganfallpatient mit hohem Problemlösungsvermögen Strategien entwickeln, um Alltagssituationen anzupassen, jemand mit guten sozialen Kompetenzen findet leicht Unterstützung bei Freunden und Familie. Und wir fragen, was dem Patienten besonders wichtig ist. Aus diesen Informationen erstellen wir dann einen individuellen Behandlungsplan und legen fest, welche Therapiemittel wir einsetzen.

Können Sie uns ein konkretes Beispiel geben, wie ein solcher Therapieplan entsteht?

Ja, nehmen wir ein Schulkind mit Konzentrationsschwierigkeiten, das zu uns in die Praxis kommt. Wir testen zunächst Konzentrationsfähigkeit, Motorik und andere Teilleistungsbereiche wie Lesen, Schreiben oder Rechnen, um herauszufinden, welche Ursachen hinter dem Problem stecken und welche Fähigkeiten zur Kompensation das Kind hat. Je nach Ergebnis helfen wir dem Schüler sich beim Lernen besser zu strukturieren oder wir arbeiten daran, die Schreibmotorik zu verbessern. Manchmal ist das Problem die visuelle Wahrnehmung oder die Hörwahrnehmung. Oder wir finden heraus, dass gar keine Beeinträchtigung in bestimmten Fähigkeiten vorliegt, sondern das Kind von Mitschülern oder Lehrern gemobbt wird oder von den Eltern überfordert und deshalb eine psychische Störung entwickelt hat, die wir dann angehen würden. Ergotherapie ist also auch Detektivarbeit.
 


Mit welchen Therapiemitteln arbeiten Ergotherapeuten?

Das Spektrum an Behandlungsmethoden in der Ergotherapie ist groß. Es reicht von motorischen Übungen, über Hirnleistungstraining, Angehörigenberatung bis hin zur Hilfsmittelanpassung für den Alltag, um einige Beispiele zu nennen. Auch neue Techniken wie Virtual Reality kommen hinzu. Hier können wir in Zukunft etwa bei Schlaganfallpatienten simulieren, dass sich die gelähmte Hand bewegt, was sich positiv auf die steuernden Bereiche im Gehirn auswirkt.

Ich arbeite gerne mit Biofeedback und Neurofeedback. Durch Sensoren bekommt der Patient eine direkte Rückmeldung über körperliche Vorgänge wie Herzschlag, Atmung, Muskelanspannung, Schwitzen oder Temperatur, die zum Beispiel auf Stresszustände hinweisen. Beim Neurofeedback messen wir die Gehirnwellenaktivität. Die direkte Rückmeldung hilft zum Beispiel, sich zu entspannen oder besser zu konzentrieren.

Wenn ich ein Rezept für Ergotherapie bekomme, ist dort in der Regel ein Heilmittel angegeben. Was ist damit gemeint?

Heilmittel sind therapeutische Maßnahmen, die darauf abzielen, dass der Patient selbstständiger wird und im Alltag wieder besser zurechtkommt. Wir setzen dazu spezifische Aktivitäten und Übungen ein, die motorische, kognitive und sozial-emotionale Fähigkeiten verbessern.

Wichtige Heilmittel sind:
- die psychisch funktionelle Behandlung für Patienten aus dem psychiatrischen und psychosomatischen Bereich etwa mit Depressionen oder Angststörungen 
- die sensomotorisch-perzeptive Behandlung im neurologischen Bereich, zum Beispiel für Schlaganfallpatienten oder für Kinder mit Motorik- bzw. Wahrnehmungsproblemen
- die motorisch funktionelle Behandlung, etwa die Handtherapie nach einem Unfall 
- das Hirnleistungstraining, etwa für Demenzpatienten

Den Heilmittelkatalog legen der Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in Zusammenarbeit mit medizinischen und therapeutischen Fachgruppen fest. Seit Kurzem gibt es auch eine Blankoverordnung für bestimmte Diagnosegruppen. Therapeuten können dann selbst entscheiden, welches Heilmittel zur Anwendung kommt.

Die Selbstmotivation und die Stärkung der eigenen Kompetenz beim Klienten zu fördern, ist elementar für eine erfolgreiche Therapie.

Gert Strauß

Ergotherapeut

Relativ neu in der Ergotherapie ist der Umgang mit Post-COVID-Patienten. Wie können Ergotherapeuten Betroffenen helfen?

Das ist aktuell eine der größten Herausforderungen in der Ergotherapie, weil es etwas völlig Neues ist. Patientinnen und Patienten mit Post-COVID und einer Belastungsintoleranz haben nicht mehr das gewohnte körperliche oder mentale Leistungslevel wie vor der Infektion. Depressive Symptome können als Sekundärfolge auftreten. Aber gängige Aktivierungs-, Bewegungs- oder Konzentrationstrainings, wie wir sie normalerweise bei Menschen mit Depressionen durchführen, sind meist kontraproduktiv. Während es depressiven Menschen damit besser geht, verschlechtern sich bei Post-COVID-Patienten mit einer Belastungsintoleranz die Symptome. Sie müssen ein gutes Energiemanagement lernen, sonst überlasten sie sich stark. Wir Ergotherapeuten unterstützen die Betroffenen darin.

Was ist Ihnen persönlich das Wichtigste bei der Ergotherapie?

Der Transfer in den Alltag ist zentral für meine Arbeit. Zu schauen, was ist für die Patienten individuell zu Hause umsetzbar. Es bringt nichts, wenn die Übungen nur ein oder zwei Mal die Woche in der Therapie gemacht werden, sondern die Klienten bekommen Hausaufgaben und müssen selbstständig im Alltag weiterüben, eventuell mit Unterstützung durch Angehörige. Dazu sollte der Therapeut das Gesamtsystem verstehen. Ein Elternteil, der zu Hause ist und eine gute Arbeitsatmosphäre mit dem Kind hat, kann andere Aufgaben mitnehmen als jemand, der alleinerziehend mit drei Kindern und ohnehin an einer Belastungsgrenze ist.

Für die Ergotherapie ist es außerdem wichtig, eine positive und angstfreie Atmosphäre zu schaffen. Nur wenn mir die Menschen vertrauen, können wir gemeinsam die Therapieziele erreichen. Da gehört es zum Beispiel dazu, dass ich bei Kindern erstmal in die Hocke gehe, damit sie vor dem großen, älteren Mann mit Glatze nicht zurückschrecken. Mir ist es wichtig, Patienten empathisch und auf Augenhöhe zu begegnen.

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Dieser Artikel enthält allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder –behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen. Den passenden Arzt finden Sie über unser Ärzteverzeichnis.

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