FOCUS-GESUNDHEIT: Herr Nobis, Schmerz ist doch ganz einfach: Er signalisiert eine Verletzung, verschwindet aber bald wieder – und der Mensch hat gelernt, beim nächsten Mal vorsichtiger zu sein.
Hans-Günter Nobis: Der akute Schmerz verringert sich tatsächlich während der Heilung und verschwindet dann ganz. Viel häufiger sind die Schmerzen aber chronisch, also dauerhaft. Davon sind rund zwölf Millionen Deutsche betroffen. Meist steht das Psychische als Ursache im Vordergrund. Nicht selten geht es um lang anhaltende, existenzielle Ängste. Etwa, dass man seinen Arbeitsplatz verliert, die Ehe in die Brüche geht, den Kindern etwas zustoßen könnte. Diese Spannungen in der Muskulatur können über längere Zeit die Schmerznerven in unserem Gewebe aktivieren.
Warum ist der Unterschied zu körperlichem Schmerz so wichtig?
Der überwiegende Teil der Schmerzpatienten geht von einem rein körperlich bedingten Schmerz aus. Sie meinen, dass der Schmerz immer einen körperlichen Schaden anzeigt, was heißt, dass da, wo es wehtut, auch etwas kaputt sein muss. Die Psyche oder Belastungen in Form von privatem oder beruflichem Stress haben in diesem Verständnis keinen Platz. Will der Behandler dann Dinge wie psychosoziale Belastungen erfahren, kommt es zu Kommunikationsproblemen. Oft fragen Schmerzpatienten dann empört: Meinen Sie etwa, ich bilde mir den Schmerz nur ein?Was sagen Sie dann?
Jeder Schmerz ist echt. Die Medizin ist so angelegt, dass sie zuerst nach einer gefährlichen Schädigung als Grund für die Schmerzen fahndet. Findet der Arzt keine Auffälligkeiten, heißt es meist, alles sei in Ordnung. Der Patient muss dies dann aber als Kränkung erleben, wo es doch seiner Vorstellung der Schmerzursache widerspricht. Diese Aussage der Behandler, es sei alles in Ordnung, bezieht sich aber nur auf den Körper als Ursache. Da in den meisten Fällen, nämlich bei über 80 Prozent, Schmerzen ohne körperliche Schäden auftreten, müssen immer auch psychosoziale Auslöser einbezogen werden.
Welchen Unterschied macht es, die wahren Hintergründe herauszufinden?
Ich sage immer: Einen guten Handwerker erkenne ich daran, dass er bei einer feuchten Wand im Keller nicht nur sagt, wie man die Flecken oberflächlich wieder wegbekommt, sondern wie man herausfindet, warum sie feucht ist.
Um sie dauerhaft trockenzulegen?
Ganz genau. Um das zu verstehen, ist es für die Patienten ganz wichtig, diese handwerkliche Parallele auch auf seine Schmerzbehandlung zu beziehen. Die Medizin kann eine ganze Menge anbieten, um Schmerzen zu lindern. Aber es ist ebenso wichtig, dass Patienten den Arzt fragen, in welchem Zusammenhang ihre Schmerzen stehen und wo man ansetzen muss, um die eigentliche Ursache zu beheben.
Bei Rückenschmerzen wegen lang anhaltender beruflicher Überlastung werden Schmerzmittel nicht die Lösung sein.
Schmerzen unterliegen immer körperlichen, psychischen und sozialen Einflüssen. Mal überwiegt die eine, mal die andere Seite. Wir Behandler müssen also zunächst klären, ob wir einen Menschen vor uns haben, dessen Schmerz mehr eine körperliche oder mehr eine psychosoziale Ursache hat. Entsprechend ist das Behandlungskonzept anders zu gewichten.
Eine umfassende Schmerzbehandlung erfordert damit nicht nur einen Mediziner, sondern auch einen Psychologen oder Sozialarbeiter?
Das ist richtig. Das Behandlungskonzept sieht vor, dass nicht nur der behandelnde Arzt mitwirkt, sondern auch ein Schmerzpsychotherapeut, ein Physiotherapeut und ein Sozialarbeiter. Wir sprechen hier von einer multimodalen Therapie. Die Ziele der Behandlung sind im körperlichen Bereich die Steigerung der Fitness, der Belastungskapazität, der Koordination und der Körperwahrnehmung. Außerdem sollen die Patienten lernen, ihre persönlichen Belastungsgrenzen früher wahr- und dann auch anzunehmen. Mit den psychotherapeutischen Verfahren will man Ängste und Niedergeschlagenheit verringern.
Wie hoch sind die Erfolgsraten der multimodalen Therapie?
Je nach Untersuchung berichten bis zu 70 Prozent der chronisch Schmerzkranken von deutlichen Verbesserungen unter einer multimodalen Behandlung.
Dies ist eine gekürzte Fassung. Das vollständige Interview finden Sie in der FOCUS-GESUNDHEIT Nr. 40 „Ärzteliste 2017“ - als Print-Heft oder als Digital-Ausgabe.
Fotocredit: Stefan-Thomas Kröger für FOCUS-Gesundheit