Wenn Izzet Mafratoglu von „seinen Kindern“ spricht, bekommt seine Stimme einen weichen Klang. Dabei ist er ein harter Kerl. Zweifacher Deutscher Meister im Boxen, von klein auf in Berlin durchgeschlagen, den einen oder anderen Schwinger weggesteckt. Gestählt habe ihn das, sagt er.
An diesem Vormittag steht der athletische 52-Jährige vor dem Boxring in der Trainingshalle seines Isigym-Vereins im Stadtteil Schöneberg. Am Eingang reihen sich die Pokale und Siegerwimpel, es riecht nach Turnhallenschweiß. Seit zehn Jahren managt Mafratoglu in dem Berliner Brennpunktviertel einen Boxverein für Kids aus dem Kiez. 500 Kinder und Jugendliche trainiert er dort tagaus, tagein. Freiwilligenarbeit – er verlangt kein Geld dafür. Aber Respekt und Disziplin, weil es darauf später mehr ankommen wird als auf einen perfekten rechten Haken.
„Boxen ist eine Schule fürs Leben“, sagt Mafratoglu. „Man lernt Gewinnen und Verlieren, Selbstvertrauen, Verantwortung, Fairness, Teamgeist.“ Und was nimmt er selbst mit? „Das Gefühl, das Richtige zu tun. Wenn ich sehe, was aus den Kindern geworden ist und wie sie mit Stolz ins Leben gehen, dann macht mich das glücklich.“
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Vorbild Mark Zuckerberg
Das Hochgefühl des Helfens – wohl jeder, der sich für eine Sache oder andere Menschen engagiert, kennt es. Dass Geben seliger ist denn Nehmen, mahnt schon die Bibel. Dennoch sind Nächstenliebe und soziales Engagement keine Erfindung des Christentums. Es scheint vielmehr den meisten Menschen eigen, sich zum Wohl der Allgemeinheit einbringen zu wollen – im Kleinen wie im Großen. Mitunter auch so übergroß wie Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, der kürzlich nach der Geburt seiner ersten Tochter ankündigte, 99 Prozent seiner Facebook-Anteile im Wert von rund 45 Milliarden Dollar in eine Stiftung einbringen zu wollen. Freilich, die Zuckerbergs werden trotz ihrer rekordverdächtigen Großzügigkeit nicht darben müssen. Aber vielleicht fühlt sich eine gute Tat auch einfach gut an.
Die Menschen in Deutschland sind darin derzeit ganz vorn. Landauf, landab aktiviert die Not der Geflüchteten ein Heer von Ehrenamtlichen, wie es die Republik nie gesehen hat. Allein in der Flüchtlingshilfe, das berichten verschiedene Organisationen, ist die Anzahl der Ehrenamtlichen im Jahr 2015 um etwa 70 Prozent gestiegen. Viele Helfer spenden fünf und mehr Stunden pro Woche, um Kleider zu sortieren, Deutsch zu unterrichten, Fahr- und Dolmetscherdienste oder Patenschaften zu übernehmen – oft neben ihrem Beruf. Insgesamt 23 Millionen Menschen engagieren sich freiwillig zum Wohl der anderen – ob als Schülerlotse, Fußballtrainer oder Sterbehelfer, als Lesepate, Pfarrgemeinderat oder freiwilliger Feuerwehrler. Jeder dritte Deutsche über 14 Jahren übt ein Ehrenamt aus. Die Zahlen stammen aus dem Jahr 2011, neuere gibt es noch nicht. Aber sie dürften in den letzten zwei Jahren noch einmal deutlich gewachsen sein.
Der Berliner Glücksforscher Jürgen Schupp sieht dies mit Wohlgefallen. „Dieses große, nicht nachlassende Engagement kommt auch den Menschen, die es erbringen, zugute“, sagt der Professor, der sich auf das subjektive Wohlbefinden und das Glück der Deutschen versteht wie kaum ein anderer.
Soziales Engagement bringt Zufriedenheit
Für das Sozio-ökonomische Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ermittelt Schupp seit mehr als 30 Jahren in regelmäßigen Abständen den Zufriedenheitsstatus der Menschen in Deutschland. Die Langzeitstudie berücksichtigt alle Aspekte, die für den Zuwachs oder die Abnahme von Glück empirisch auszuloten sind. Ein Gehalts- oder Karrieresprung zum Beispiel, Heirat oder Trennung, Ortswechsel, Krankheit, ein neuer Partner oder die Geburt von Kindern. Auch die individuellen sozialen Aktivitäten fließen in das bundesweite Glücksbarometer ein.
„Alle Studien zeigen, dass Freizeitaktivitäten, die der Gemeinschaft dienen, einen wesentlich höheren Zuwachs an Zufriedenheit bringen als etwa eine Gehaltserhöhung“, erklärt Glücksexperte Schupp, dessen fröhlicher Strahlenkranz um die Augen vermuten lässt, dass auch er sich zu den zufriedenen Zeitgenossen zählen darf. „Engagement tut gut“, bringt es der Sozialforscher auf den Punkt. Ganz gleich, ob für Freunde oder Fremde.
„Helper’s High“ nennen es die Amerikaner. In den USA, wo Charity noch viel selbstverständlicher zum guten Ton gehört als bei uns, ist das Hochgefühl der Helfenden längst ein stehender Begriff. Und vielfach belegt.
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Die Forschung der Freiwilligenarbeit
Schon 2006 bewiesen US-Neurowissenschaftler über bildgebende Verfahren, dass bei einer Geldspende dieselben Belohnungssysteme im Gehirn aktiviert werden, die auch dann anspringen, wenn uns etwas Gutes zuteilwird. Verschiedene Forschungen zeigen, dass Aktivitäten zum Wohl der anderen dieselben Hirnareale ansprechen, die auch bei anderen freudvollen Tätigkeiten wie Sex oder Essen reagieren. Diverse Untersuchungen zeigen, dass soziales Engagement sich sogar positiv auf die Gesundheit auswirkt. Menschen jenseits der 55, die sich sozial einbringen, haben in den darauffolgenden fünf Jahren eine um 44 Prozent niedrigere Sterblichkeitswahrscheinlichkeit als solche, die nur an sich denken, ergab eine Untersuchung aus dem Jahr 1999. Dieser Effekt war unabhängig von Alter oder sozialer Einbindung.
Miriam Otto ist 25 und engagiert sich seit mehreren Jahren im Familienentlastenden Dienst. Zweimal pro Woche holt die Münchner Studentin den zwölfjährigen Jungen Noah von der Schule für Kinder mit Sehbehinderung ab und begleitet ihn nach Hause oder zum Nachmittagssport. Noah kommuniziert durch Gebärden und Gesten. Er sitzt im Rollstuhl. „Aber er versteht alles“, sagt Miriam Otto und grinst. Sie lacht viel mit Noah, wenn sie sich zu ihm auf Rolli-Höhe runterbeugt und ihre Worte mit Gebärden unterlegt.
„Wir orientieren uns an Freunden“
Otto studiert Gehörlosenpädagogik, sie steht kurz vorm Staatsexamen. Die zehn bis zwölf Stunden, die sie jede Woche gegen eine Aufwandsentschädigung für Ehrenamtliche mit Noah verbringt, sind auch für sie eine wichtige Erfahrung. „Es hilft mir im Studium, es ist mein Verdienst, und es macht mir Spaß“, sagt sie. Manchmal, wenn sie gestresst von der Uni kommt, bringe Noah sie wieder ins Lot, wenn er sich „wie ein Keks“ über die einfahrende U-Bahn freue, erzählt sie. Denn Noah liebt U-Bahnen. „Man muss sich wie bei jedem anderen Kind drauf einlassen wollen“, sagt Otto. „Dann kommt viel zurück.“
Der Bochumer Sozialpsychologe Hans-Werner Bierhoff beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit den Motiven der Freiwilligenarbeit. Er weiß, dass das Ehrenamt gewissen Trends unterliegt. Die aktuelle Welle der Hilfsbereitschaft für die Flüchtlinge aber überrascht auch ihn. „Die Not ist präsent und greifbar, das aktiviert manchen, der bislang passiv war“, vermutet Bierhoff. Und weil der Mensch ein Herdentier ist, schwappt die Welle weiter. „Es gibt auch in der Freiwilligenarbeit eine soziale Beeinflussung“, so Bierhoff. „Wir orientieren uns an Freunden und Bekannten. Wenn die sich plötzlich engagieren, sind auch wir geneigter, es zu tun.“
Das Selbstwertgefühl steigt
Dass Mildtätigkeit nicht nur ansteckend, sondern eben auch ein Labsal für die Seele ist, dessen ist sich der emeritierte Professor sicher: „Menschen, die regelmäßig anderen helfen, profitieren selbst davon, weil sich ihre Eigeneinschätzung verbessert“, erklärt Bierhoff. „Man erkennt sich dafür an, dass man in Übereinstimmung mit den eigenen Einstellungen handelt. Das setzt einen Kreislauf der Selbstverstärkung in Gang. Die Erfahrung, etwas zu bewegen, steigert das Selbstwertgefühl.“
Günter Reichert ist ein Mensch mit starken Prinzipien. Als der Nürnberger Architekt das Elend der Flüchtlinge sah, die mit nicht viel mehr in der fränkischen Lebkuchenstadt landeten als dem, was sie am Leib trugen, krempelte er die Ärmel hoch und initiierte die erste deutsche „Asylothek“ in einer Nürnberger Gemeinschaftsunterkunft. Das aus Spenden finanzierte Bildungsprojekt will Flüchtlingen mit Sprachkursen, Bibliothek und Kulturangeboten die Integration erleichtern. „Es war keine Idee, es war eine Notwendigkeit“, sagt Reichert. „Integration muss ab dem ersten Tag passieren.“
Inzwischen gibt es 39 Asylotheken. Initiator Reichert berät Nachahmerprojekte und gibt jeden Freitagnachmittag Deutschunterricht in der Nürnberger Asylothek. Wenn ihm dort die zehnjährige Haniyeh aus Afghanistan einen Brief zusteckt, in dem sie sich dafür bedankt, dass er ihr Deutsch beigebracht hat, oder ihn der sechsjährige Ferdaus aus Syrien fragt, ob er ihn „Papa“ nennen darf, dann weiß Reichert, dass er das Richtige tut. „Mich erfüllt das mit Freude und Glück“, sagt er.
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Agentur für das passende Ehrenamt
„Gebraucht zu werden, etwas Sinnvolles beizutragen und dabei neue Menschen und Themen zu entdecken, das erleben die meisten als sehr befriedigend“, beobachtet Renate Volk, Leiterin der Münchner Freiwilligen-Agentur „Tatendrang“. Fast täglich berät Volk Tatendurstige, die nach dem Ende ihrer Berufslaufbahn ehrenamtlich aktiv bleiben wollen. Auch Studenten, Schüler, Mütter oder Manager sprechen in der Agentur vor. „Meist sind es Menschen, die bereit sind, sich Neuem zu stellen, und eine gewisse innere Stabilität haben“, sagt Volk. „Und die ihr Leben sinngetrieben bereichern wollen.“
Renate Volk und ihre Mitarbeiterinnen nehmen sich jedes Mal viel Zeit, um das passende Ehrenamt zu finden. „Eine Engagementberatung ist ein bisschen wie eine Lebensberatung“, sagt Volk. „Das Ehrenamt muss zur Lebenssituation und den jeweiligen Kenntnissen und Erwartungen passen. Sonst endet es manchmal auch in Frust oder Überforderung.“
Dass Hilfsbereite eine Glücksrendite aus ihrem Einsatz ziehen wollen, findet Volk nur richtig. „Wir tun das doch auch für uns – und das macht es nicht schlechter.“ In ihren Beratungen fragt die Vermittlerin stets nach den persönlichen Motiven des Engagements. Im Zweifel sind ihr diese lieber als der wolkige Vorsatz, Gutes tun zu wollen. Volk neigt generell nicht zur Verklärung von Gutmenschentum: „Zu sehen, dass es anderen noch schlechter geht, hilft einem“, sagt sie. „Man bekommt eine andere Wertschätzung für das eigene Leben.“
Neue Sicht auf das eigene Leben
Warum auch nicht? Wenn sie vom Helfereinsatz in der Flüchtlingsunterkunft in ihr warmes Zuhause zurückkehre, so beschreibt es eine Mutter, die einen Nachmittag pro Woche in der Münchner Bayernkaserne mit anpackt, sei sie jedes Mal ganz „geerdet vor Demut und Dankbarkeit“. Auch Glücksforscher Schupp kennt diesen Relativierungseffekt aus seinen Untersuchungen: „Durch den Vergleich erscheint die eigene Lebenssituation plötzlich anders und damit auch deren subjektive Bewertung.“
Dass sich dies auch positiv auf die Job-Zufriedenheit auswirken kann, davon ist Freiwilligen-Vermittlerin Volk überzeugt. „Viele Unternehmen melden sich bei uns, die ihre Mitarbeiter oder ein ganzes Team in einer sozialen Einrichtung mithelfen lassen wollen“, berichtet sie. „Corporate Volunteering“ gilt längst als Mittel der Mitarbeitermotivation und -bindung. Gut die Hälfte der deutschen Unternehmen unterstützen laut Engagementbericht der Bundesregierung ehrenamtliche Tätigkeiten ihrer Mitarbeiter. Auch die Beratungsagentur KPMG unterhält seit vielen Jahren einen „Make a Difference Day“, an dem sich Mitarbeiter ganztägig ehrenamtlich engagieren können. Mehr als 600 beteiligen sich jedes Jahr daran „Das stößt viel an, was die Mitarbeiter auch in den Berufsalltag mitnehmen“, ist Claudia Frenzel von KPMG überzeugt. „Vielleicht auch mehr Motivation.“
So gerät das Ehrenamt zum Schwungrad fürs eigene Leben. „Menschen, die helfen, sind meist optimistisch und handlungsorientiert“, bestätigt Ehrenamts-forscher Bierhoff. Und sie sind – gerade für ältere Menschen ist das oft ein Motiv – weniger allein.
Mitunter auch weniger allein gelassen, wenn sie selbst mal Hilfe brauchen. „Tatendrang“-Macherin Volk erzählt die Geschichte einer über ihre Agentur vermittelten Freiwilligen, die sich um eine aus Kenia geflüchtete Mutter und deren Tochter gekümmert hatte. Bis zu dem Tag, an dem sie selbst wegen einer Knöchelverletzung nicht mehr aus dem Haus gehen konnte. Tags darauf klingelte es an der Tür. Da standen die kenianische Mutter und ihre Tochter. Sie hatten Essen gekocht. Und kamen fortan regelmäßig vorbei, um ihrer Helferin wieder auf die Beine zu helfen.