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Mit Insulin in die Essstörung

Manche Diabetiker reduzieren ihre Insulindosis, um abzunehmen. Daraus kann eine schwere Essstörung entstehen, die von Medizinern Insulin-Purging genannt wird. Auch Jasmin Thiel litt jahrelang daran.

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Diabetes-Patientin verabreicht Insulinspritze in den Bauch

© Mauritius Images

An die Nacht, in der sie fast gestorben wäre, erinnert sich Jasmin Thiel nur schemenhaft. Sie weiß noch, wie schwer ihr Atem ging, dass sie nur verschwommen sah und sich immer wieder übergeben musste. Als die damals 14-Jährige ahnte, dass sie Hilfe brauchte, krabbelte sie im Haus ihrer Eltern die Treppe zu deren Schlafzimmer hinauf. Mit letzter Kraft weckte sie ihre Mutter – und brach zusammen. Auf dem Weg in die Klinik fiel die Schülerin ins Koma. Nachdem die Ärzte sie wiederbelebt hatten, brachten sie Jasmin Thiel auf die Intensivstation. Zu diesem Zeitpunkt wog die bayerische Schülerin nur noch 42 Kilo.

Den Ärzten, die ihr eine Magensonde legten, war klar: Ihre junge Patientin litt an einer Essstörung. Einer ganz besonderen Form, die umgangssprachlich „Diabulimie“, von Medizinern Insulin-Purging genannt wird. Sie betrifft meist junge Typ-1-Diabetikerinnen, die ihre Insulininjektionen weglassen, um dadurch ihr Gewicht niedrig zu halten. Doch die Methode hat gefährliche Folgen wie bei Jasmin Thiel. Die Diabetiker können schwere Schäden an Nieren, Augen und Nerven erleiden oder ins diabetische Koma fallen.

 

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Junge Diabetikerinnen erkranken zwei- bis dreimal so häufig an einer Essstörung wie stoffwechselgesunde Frauen. Laut Deutschem Diabetes-Zentrum hat fast jede dritte Typ-1-Diabetikerin ein gestörtes Essverhalten. Von den Jungen und Männern ist nur ungefähr jeder sechste betroffen. Da die Diabulimie oft lange unbemerkt bleibt, können die Gesundheitsschäden verheerend sein. Doch eine Therapie kann helfen: Sie ist dann erfolgreich, wenn sie sowohl das gestörte Essverhalten als auch die vernachlässigte Diabetes-Therapie im Blick hat.

Zweimal so oft wie Stoffwechselgesunde Mädchen entwickeln junge Frauen mit Typ-1-Diabetes ein gestörtes Essverhalten.(Quelle: diabetesDE, Deutsche Diabetes-Hilfe)

Insulinverzicht als Rebellion

Dass sie Diabetes hat, erfuhr Jasmin Thiel mit elf. „Ich war immer ein pummeliges Kind, doch den Sommer über hatte ich durch den diabetesbedingten Insulinmangel plötzlich abgenommen“, erinnert sich die heute 32-Jährige. Nach der Diagnose musste sie lernen, Broteinheiten zu berechnen, sich Insulin zu spritzen und Blutzucker zu messen. Sobald das Hormon wieder regelmäßig durch ihren Körper zirkulierte, kamen die Pfunde zu ihrem Leidwesen zurück. Dennoch sagt Jasmin Thiel heute, dass es ihr nicht ums Abnehmen ging, als sie begann, die Spritzen wegzulassen. „Am Anfang war es eine Art Rebellion – dagegen, dass ich auf einmal alles kontrollieren, abwiegen und messen musste. Ich war immer jemand, der frei sein wollte, und plötzlich war alles so streng“, erzählt sie von dieser Zeit, als sie mitten in der Pubertät steckte.

Die Jugendliche begann, zu den Mahlzeiten zu wenig Insulin zu spritzen. Irgendwann ließ sie das lebenswichtige Hormon ganz weg – und nahm ab. „Wenn man sonst immer die Dicke war, ist es ein tolles Gefühl, wenn die Waage jedes Mal weniger anzeigt“, berichtet Jasmin Thiel heute. „Bei einer Familienfeier trug ich zum ersten Mal wieder ein hübsches Kleid, und jeder sagte mir, wie schön ich sei. Es fühlte sich einfach gut an, endlich kein Mopsgesicht mehr zu haben.“ Regelrecht spezialisiert hätte sie sich daraufhin auf das Abnehmen mit Insulin, sagt sie heute: „Wie viele Einheiten weniger lassen wie viele Kilos schmelzen? Wie viel muss ich spritzen, damit es mir nicht ganz schlecht geht und ich trotzdem abnehme? All das habe ich mir akribisch erarbeitet. Insulin ist eine mächtige Waffe.“

Schon damals, in den Anfängen ihrer Essstörung, gab es Tage, an denen es Jasmin Thiel nicht gut ging. „Ich fühlte mich schwach, mir war schwindelig und übel.“ Der Effekt, der sich einstellt, wenn Diabetiker kein Insulin mehr spritzen, entspricht den Symptomen vor der Diagnose: verstärkter Durst, häufiges Wasserlassen, Schwäche, Schwindel, Müdigkeit – und Gewichtsverlust. Trotz der Nebenwirkungen hatte Jasmin Thiel das gute Gefühl von Kontrolle, wenn sie das Insulin wegließ, statt wie sonst vom Diabetes kontrolliert zu werden. „Auch meine Eltern haben mich ja ständig kontrolliert: Kam ich vom Freibad und hatte zu hohe Werte, weil ich ein Eis gegessen hatte, gab es Ärger.“

 

Jasmin Thiel

© Eva Feilkas für FOCUS-DIABETES

Jasmin Thiel: Die Diabetes-Patientin hatte eine verzerrte Wahrnehmung: Sie empfand ihr Spiegelbild als unattraktiv und dick – obwohl sie schlank war – und Kalorien zählte

Vom Diabetes in die Essstörung

Eineinhalb Jahre lang bekam niemand mit, dass die Schülerin ihren Diabetes vernachlässigte und immer magerer wurde. „Selbst die Ärzte haben nichts gemerkt, obwohl ich jedes Quartal zur Kontrolle musste.“ In ihr Diabetes-Tagebuch trug sie einfach Fantasiewerte ein. Die Folgen waren Jasmin Thiel damals egal.

Doch irgendwann streikte ihr Körper. An die Stunden, bevor sie das Bewusstsein verlor, erinnert sie sich noch: „Meine Atmung war heiß, aus dem Mund roch ich nach Most. Ich habe es so weit getrieben, bis nichts mehr ging. Dass meine Nieren noch funktionieren und ich nicht erblindet bin, war reines Glück. Am meisten habe ich aber meiner Seele geschadet.“

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Raus aus der Essstörung

Aus einer Diabulimie wieder herauszukommen ist schwer. Wie alle Menschen mit Essstörungen müssten auch Diabetiker aufhören, sich rund um die Uhr mit Essen zu beschäftigen. Doch das verbietet der Diabetes. „Das Essen und den Körper kontrollieren – das ist genau das, was Magersüchtige tun“, sagt Jasmin Thiel. „Ich bin mir sicher, dass der Diabetes meine Essstörung gefördert hat.“

Psychologische Unterstützung erhielt die Schülerin erst, als sie nach sechs Monaten das Krankenhaus verließ. Am Universitätsklinikum Tübingen bekam sie einen Therapieplatz. „Dort habe ich mich zum ersten Mal geborgen gefühlt.“ Eine Kur in einer Einrichtung für Jugendliche mit Diabetes folgte – eineinhalb Jahre verbrachte Jasmin Thiel in Bad Aibling und zog dafür zum ersten Mal von zu Hause aus. Der Schritt tat der damals 16-Jährigen gut: „Ich wollte schon als Kind am liebsten in ein Internat.“

Bis sie die Essstörung endgültig in den Griff bekam, sollte aber noch viel Zeit vergehen. Erst vor drei Jahren, sagt die 32-jährige Bayerin, hätte sie mit ihrem Diabetes Frieden geschlossen. „Ich war wegen eines Burnouts erneut in einer Klinik. Der Oberarzt fragte mich, ob ich mich um meinen Diabetes kümmere. Da habe ich zum ersten Mal Nein gesagt – und es hat klick gemacht. Von da an habe ich mich mit dem Thema auseinandergesetzt und mir eine Insulinpumpe besorgt.“An die Kombination aus Sprach-, Gestaltungs- und Körpertherapie, die ihr schließlich half, erinnert sich Jasmin Thiel zwar nur ungern: „Dass ich bei der Körpertherapie meine Umrisse zeichnen musste, war für mich total Furcht einflößend.“

Doch heute geht es ihr viel besser: In ihrem Job als Marketingleiterin ist sie erfolgreich, mit ihrem Mann will sie eine Familie gründen. Auf Instagram zeigt sie ihr Leben unter dem Namen diabeauthiel ganz offen. Vor Insulin und Kalorien hat sie immer noch Angst, das gibt sie zu: „Ich rechne ständig alles aus. Sogar die Kalorien auf den Tellern anderer Leute. Und wenn ich nach Absprache mit meiner Diabetes-Beraterin meine Basalrate anhebe, schreit mein ganzes System: Oh Gott, jetzt wirst du fett.“

Insulin wegzulassen kommt für die junge Frau trotzdem nicht mehr infrage. „Was von der Essstörung zurückgeblieben ist, ist wie eine Narbe. Ich spüre sie, aber sie blutet nicht mehr.“

Interview: "Die beste Prophylaxe ist Selbstbewusstsein"

Diabetiker, die unter einer Essstörung leiden, sieht Stephan Herpertz täglich. Er erklärt, wie man die Krankheit erkennt und welche Reaktion der Angehörigen angemessen und vor allem wirkungsvoll ist.

Stephan Herpertz ist Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn

© Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn

Stephan Herpertz

Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn
Herr Herpertz, warum entwickeln manche junge Diabetikerinnen und Diabetiker eine Essstörung?Magersucht hat ihren Erkrankungsgipfel in der Pubertät und Adoleszenz. Diabetes ebenfalls – beide Erkrankungen fallen also zusammen, was das Risiko erhöht. Mädchen in dem Alter machen ihr Selbstwertgefühl häufig an ihrem Aussehen fest. Erkranken sie an Diabetes, verlieren sie zunächst an Gewicht. Spritzen sie nach der Diagnose Insulin, nehmen sie binnen kurzer Zeit wieder zu, oft über das alte Gewicht hinaus. Wegen des Diabetes muss sich der Kopf zudem ständig mit Essen beschäftigen. Diese permanente Kontrolle erhöht die Gefahr von Kontrollverlusten in Form von Essanfällen. Die Gegenregulation erfolgt durch Fasten, Erbrechen oder exzessiven Sport – da rutscht ein Mädchen oder auch ein Junge leichter in eine Essstörung.Was bedeutet Insulin-Purging?Übersetzt bedeutet der Begriff „Erbrechen über die Nieren“. Statt zu erbrechen, lassen betroffene Diabetiker das Insulin weg. Ihr Körper scheidet den Zucker mit viel Flüssigkeit über den Urin aus, was zu einer drastischen Gewichtsabnahme führt. Das ist sehr gefährlich, weil die Nieren aufgrund der hohen Zuckerkonzentration geschädigt werden.  Kann eine Psychotherapie helfen?Der Erfolg einer Psychotherapie hängt immer von der Motivation der Patientin ab. Etwa die Hälfte der Bulimie-Patientinnen werden wieder ganz gesund. Es ist jedoch wichtig, dass sich der Psychotherapeut mit Diabetes auskennt. Sonst fühlen sich die Betroffenen nicht verstanden.Wie kann es sein, dass ein Diabetologe eine Essstörung übersieht?Die Erkrankung ist nicht so leicht zu erkennen. Aber wenn eine junge Patientin mit Typ-1-Diabetes katastrophale Zuckerwerte hat, obwohl sie in einer Schulung war, sollte der Arzt hellhörig werden und an Bulimie denken.Wie könnte man verhindern, dass eine junge Patientin nach der Diabetes-Diagnose in eine Essstörung gerät?Wenn eine Patientin, wie oben erklärt, auffällt, sollte ihr Diabetologe das aktiv ansprechen. Dann kann Schlimmeres wahrscheinlich verhindert werden. Die beste Prophylaxe jedoch ist die Stärkung des Selbstbewusstseins. Selbstbewusste Frauen stehen zu ihrem Diabetes.

Dies ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in FOCUS-Diabetes „Gesundes Herz" 04/2019 – als Print-Heft oder als digitale Ausgabe.

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Dieser Artikel enthält allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder –behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen. Den passenden Arzt finden Sie über unser Ärzteverzeichnis.

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