Nach dem Aufwärmen erst noch eine Runde Dehnen, bevor die richtige Sporteinheit beginnt – das war lange die klassische Vorgehensweise, sowohl bei Laien als auch bei Profis. Durch das Dehnen sollte es weniger Verletzungen und Muskelkater geben, außerdem würde sich die allgemeine Leistung verbessern. Wissenschaftliche Belege dafür gibt es allerdings nicht. Im Gegenteil, in manchen Sportarten haben sich Dehnübungen sogar als kontraproduktiv erwiesen.
„Dehnen vor dem Sport ist auf keinen Fall leistungssteigernd“, sagt Ingo Tusk, Chefarzt der Klinik für Sportorthopädie und Endoprothetik der Frankfurter Rotkreuzkliniken und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention. „Eine Dehnübung nimmt die Spannung aus den Muskeln heraus. Sprinter beispielsweise brauchen aber eine hohe Muskelspannung und eine gute Reflexantwort, um beim Start schnell loszukommen – mit vorherigem Dehnen würden sie schlechter abschneiden“, erklärt der Sportorthopäde.
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Statisch oder dynamisch?
In einer großen Übersichtsstudie, die im Journal Applied Physiology, Nutrition, and Metabolism erschienen ist, haben Forscher hunderte wissenschaftlicher Arbeiten untersucht, die in den letzten 15 Jahren zum Thema Dehnen veröffentlich wurden. Ihr Fazit: Statisches Dehnen hat keinen messbaren Effekt auf das Verletzungsrisiko, für dynamisches Dehnen gab es kein eindeutiges Ergebnis. Die beiden Dehn-Methoden unterscheiden sich in der Ausführung der Übungen: Statisch bedeutet, die Dehn-Position mehrere Sekunden lang zu halten. Dynamisch ist es dann, wenn die Übung leicht federnd ausgeführt wird, also ein dynamischer Wechsel von Dehnung und Entspannung stattfindet. Welche Methode sich besser eignet, ist heute noch ein stark diskutiertes Thema.
„Das heißt nun nicht, dass niemand mehr dehnen sollte“, sagt Sportmediziner Tusk. Vor allem in einem Bereich sei das Stretching unverzichtbar: „Wer Vorerkrankungen an den Gelenken hat oder Reha-Sport macht, für den sind Dehn-Übungen sicherlich gut.“
Auf die innere Stimme hören
Generell gäbe es keine klare Antwort auf die Frage „Dehnen – ja oder nein?“. Es sei aber empfehlenswert, die Übungen erst nach dem Sportprogramm durchzuführen, so der Experte. „Viele Menschen dehnen ihren Körper, einfach weil es gut tut und entspannt. Am wichtigsten ist es, auf die innere Stimme zu hören: Was fühlt sich für mich am besten an?“