Ins Gleichgewicht zurückfinden durch Wellness
Der Schuss vor den Bug war da. Ich war ganz schön am Limit, als ich hierherkam“, sagt Veronika Schiller (Name geändert). Die 47-jährige Architektin aus Süddeutschland, zugleich zweifache Mutter, wusste, dass sie etwas für sich tun musste. Ein Bein war unerklärlich angeschwollen. Ihr Kopf kam nie zur Ruhe, sodass sie kaum schlief. Die Unternehmerin buchte eine zweiwöchige Kur im Hotel „Gut Klostermühle“ im brandenburgischen Briesen.
„Die Zeit vergeht hier langsamer“, sagt sie, mit Handtuch ums Haar, nach einem ayurvedischen Stirnölguss. Zwei Liter warmes Kräuteröl flossen an diesem Morgen eine halbe Stunde lang auf ihre Stirn. „Nach wenigen Minuten hörte ich auf zu denken und konnte komplett entspannen“, sagt Schiller. Yoga, Ölmassagen, Kräuterdampfbäder, Meditation und ayurvedische Ernährung in einer genau abgestimmten Abfolge hat ihr die Spezialistin des Hotels, Kethakie De Silva-Hahn, zusammengestellt. „Mit den Anwendungen kann man sich selbst wieder ins Gleichgewicht bringen“, sagt sie.
Wellness-Urlaube sind beliebt bei den Deutschen. 21 Millionen Bürger bevorzugen diese Form der Reise, und es werden von Jahr zu Jahr mehr. Viele suchen als Ausgleich zu Stress und Überlastung im Beruf die Regeneration und vertrauen dabei besonders auf Medical-Wellness-Angebote, also solche, die medizinisch tatsächlich nützen. Acht Prozent der geplanten Reisen waren den Daten des Statistischen Bundesamts zufolge 2018 Wellness-Urlaube. Das ist nicht verwunderlich, da 62 Prozent der Befragten Ruhe als wichtigstes Ziel nennen.Werbung
Spezialisierung auf Welness
Hotels und Spas haben sich auf die erholungsbedürftigen Wohlfühl-Kunden spezialisiert. So auch das „Gut Klostermühle“, das vor zehn Jahren ein eigenes Spa-Gebäude errichtet hat, mit Schwimmbad, Sauna, Räumen für Moorpackungen, Shiatsu, Massagen, Meditation und Yoga.
An einem See in den Wäldern Brandenburgs gelegen, zieht das Refugium erschöpfte Vielarbeiter und Wellness-Willige aus der ganzen Republik an. Viele fühlen sich nach einem Aufenthalt wieder vitaler, sagt De Silva-Hahn.
Verwunderlich ist das nicht, entdecken doch auch Schulmediziner seit einiger Zeit die heilende Wirkung insbesondere von Yoga und Meditation. Yoga verbessere sogar die geistige Leistungsfähigkeit, war 2017 in einem Fachjournal zu lesen. Die fernöstliche Praxis helfe Depressiven ebenso wie Krebserkrankten, besagen andere Studien.
Achtsamkeitsmeditationen lindern Schmerzen und Ängste. Die meisten Untersuchungen allerdings erstrecken sich über acht bis zwölf Wochen. Kann ein Wellness-Aufenthalt von wenigen Tagen da mithalten?
Erholung durch Synergieeffekte
Medical-Wellness-Kuren kombinieren eine Vielzahl von Angeboten, von denen die meisten nachweislich wirksam sind: Yoga, Massagen, gesunde Ernährung, frische Luft, Bewegung, Meditation. Die Effekte addieren sich. „Darin steckt das größte Potenzial einer Kur“, sagt Ayurveda-Expertin De Silva-Hahn.
Die meisten Wellness-Gäste wollen eine Verschnaufpause von der Hektik im Beruf. 85 Prozent der Büroangestellten aus allen Bundesländern fühlen sich gestresst, erbrachte eine Umfrage bei 1000 Beschäftigten der Firma Wellnow. Sie hasten von einem Meeting zum nächsten und ringen mit einer To-do-Liste, die sich nie abarbeiten lässt. 77 Prozent beklagen körperliche Probleme, die sie auf den permanenten Stress zurückführen. Der Rücken zieht. Der Kopf brummt. Erkältungen haben leichtes Spiel.Werbung
Zustand der Entspannung gegen Stress
Für die Dauergestressten wirken vor allem der entschleunigte Atem bei Meditation, autogenem Training und anderen Entspannungstechniken heilsam. Neuere Studien belegen dies. „Mit dem langsamen Atem kommt der Körper in einen Zustand zwischen Wachen und Schlafen, einen Zustand der Entspannung“, sagt Yoga- und Meditationsforscher Ulrich Ott von der Universität Gießen.
Der Vagusnerv, ein Teil des Parasympathikus, wird angeregt und sorgt dafür, dass Herzfrequenz und Blutdruck sinken und der Muskeltonus nachlässt. Der beruhigende Effekt tritt schon bei Anfängern beim ersten Mal ein. Experimenten zufolge reichen dafür elf Minuten bewusstes und tiefes Atmen.
Nach einer stressigen Phase nimmt sich Ott selbst gern ein paar ganz persönliche Wellness-Tage. „Zum Beispiel gerade jetzt nach einem fast zweiwöchigen Tagungsmarathon im Ausland gönne ich mir einen freien Tag, an dem ich nicht arbeite und mich nur erhole. Dann meditiere ich viel und gehe in einen Park oder nehme ein Waldbad.“ Waldbad? Jawohl, Forscher Ott geht nicht mehr spazieren. Er taucht in den Wald ein.
In Japan hat das Waldbaden, dort Shinrinyoku genannt, eine lange Tradition. Es steht für ein bewusstes und langsames Flanieren vorbei an Lärchen und Zirben, bei dem der Badende das Rauschen der Blätter hört, dem Gezwitscher der Vögel lauscht und den Wechsel von Licht und Schatten wahrnimmt.
Waldmedizin ist in Japan ein etablierter Forschungszweig. Die nationale Koryphäe auf dem Gebiet ist Qing Li, Umweltimmunologe an der Nippon Medical School in Tokio. In ungezählten Experimenten hat er bewiesen, dass schon eine Stunde im Wald den Blutdruck und Puls senkt. Weil die Zahl der Killerzellen im Blut steigt, wachsen auch die Abwehrkräfte.
Waldbaden ist nun auch in Deutschland angekommen, und die Wellness-Resorts entdecken die zentrale Bedeutung der Einbettung in die Natur. „Die Hälfte des Erholungseffekts ist schon der Standort“, sagt die Spa-Leiterin Gunda Schulz vom Hotel „Gut Klostermühle“, während wir 15 Minuten lang eine schmale Straße durch dichten Misch- und Fichtenwald fahren.
Mitunter sind die Baumstämme üppig von Flechten bedeckt. Am Ende lichtet sich der Baumbestand und gibt den Blick auf ein mit Seerosen bewachsenes Gewässer frei. Ganz abgeschieden von den umliegenden Dörfern liegt das „Gut Klostermühle“ mit seinen Fachwerkbauten am Ufer des Madlitzer Haussees, an dem vor Jahrhunderten Mönche lebten. Ein Wasserrad dreht sich gemächlich vor einem der Gebäude. Es ist still hier, tief im Wald.
Umwelt wahrnehmen
Menschen, die Wellness machen, wünschen sich einen starken Bezug zur Natur. Sie wollen, dass die Einrichtung von Grün umgeben ist, die Innenausstattung aus natürlichen Materialien besteht und große Fenster die Aussicht nach draußen ermöglichen“, weiß die Tourismusforscherin Vanessa Borkmann vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart.
Die Gäste suchen ein reizarmes Ambiente als Gegenpol zur Hektik ihres Alltags, um zu entschleunigen. Im „Gut Klostermühle“ sind Möbel und Fußböden aus Holz und Stein gefertigt. Wer aus dem Fenster schaut, sieht Grün in allen Nuancen.
„Der Weg hierher hat mich schon aus meinem Alltag entrückt“, erzählt Schiller, die sich jeden Morgen einen Rundgang um den See gönnt. „Das bringt mich in die Ursprünglichkeit zurück. Es hilft mir, die Gefühle, die während der Behandlungen hochgekommen sind, gehen zu lassen und mich zu erden.“ Nicht immer fühle man sich während einer Kur glücklich. In manchen Momenten stiegen unangenehme und verschüttete Themen auf.
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Behandlungsunterschiede Ayurveda und Wellness
Das „Gut Klostermühle“ hat sich auf Ayurveda-Kuren spezialisiert und dafür eigens die Expertin Kethakie De Silva-Hahn eingestellt, die die fernöstliche Heilkunst in ihrer Heimat Sri Lanka erlernte. „Ayurveda ist nicht Wellness. Es ist ein ganz altes Medizinsystem, das der Erhaltung unserer Gesundheit dient“, stellt De Silva-Hahn klar. Sie weiß, dass es manchmal belächelt und auf Massagen reduziert wird.
Eine 2018 erschienene Untersuchung ließ selbst die Ayurveda-Skeptiker aufhorchen: In einer multizentrischen Studie hatten Forscher um den Naturheilkundeprofessor Andreas Michalsen von der Berliner Charité eine ayurvedische Behandlung mit konventioneller Therapie bei 151 Patienten mit Kniearthrose verglichen. Beide Gruppen bekamen zwölf Wochen konventionelle Physiotherapie bzw. die ayurvedische Alternative. Die ayurvedisch Behandelten hatten danach wesentlich weniger Schmerzen beim Gehen. Das Ergebnis hielt auch ein Jahr nach der Kur noch an, berichtet Michalsen. „Gerade bei Schmerzerkrankungen, aber auch bei Depressionen, Stress und Burnout hilft eine Ayurveda-Kur sehr“, sagt De Silva-Hahn. Oft brauche es eine mindestens zwölftägige Auszeit, aber Stressspitzen ließen sich auch mit einem Kurzaufenthalt ausgleichen, etwa an einem Wochenende. „Wir machen ein Tor ganz weit auf. Wenn man das in den Alltag integriert, wirkt es länger. Wenn man in dieses Muster ,Ich muss, muss, muss‘ kommt, verflüchtigt sich der Effekt schneller.“Ayurveda-Kuren
Ayurveda umfasst sowohl eine ausgewogene gemüsereiche und fettarme Ernährung mit vielen Gewürzen als auch Wärmebehandlungen, daneben Yoga und Meditationen. Ein Klassiker der ayurvedischen Kur sind die Massagen mit warmen Sesam-Kräuter-Ölen. Je nach Befinden des Gastes wird das Öl unterschiedlich angewendet.
Wer ganz im Denken gefangen sei, lasse sich mit einer vierhändigen Massage wieder stärker in das Körpergefühl bringen, erläutert De Silva-Hahn. Der Geist kann den Bewegungen der vier Hände nicht mehr folgen. Der sensorische Kontrollverlust kann in die gedankliche Leere hinüberhelfen. Kurgast Schiller bekam am Tag zuvor eine Stempelmassage mit ölgetränkten heißen Kräutern in Baumwollsäckchen, mit denen De Silva-Hahn ihren Körper regelrecht walkte. „Ich war hinterher total entspannt. Das ist mir noch nie passiert. Normalerweise arbeitet mein Kopf immer“, erzählt Schiller.
„Schon eine einzige Massage, ob klassisch oder ayurvedisch, bringt uns in die Entspannung“, erklärt der Forscher Andreas Michalsen. Der Atem verlangsamt sich, das Herz schlägt gleichmäßiger, der Blutdruck sinkt. Ängste und Sorgen verflüchtigten sich. Schmerzen werden nach einer Massage nicht mehr so stark empfunden. Der Körper setzt das Kuschelhormon Oxytocin frei.Schiller ist sich sicher, dass diese Kur nicht ihre letzte gewesen ist: „Jetzt bin ich langsamer und fühle mich wohler. Ich schlafe auch wieder länger“, sagt sie. Sie sei achtsamer und bemerke intensiver, welche Gefühle gerade da seien. Der nette Zusatzeffekt: Nach zwei Wochen ayurvedischer Kost hat sie einige Kilogramm verloren.
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Medical Wellness: Worauf muss ich achten?
Das Bedürfnis nimmt zu, selbst etwas für seine Gesundheit zu tun – sei es nur wenige Tage oder übers Wochenende. Hotels oder Spas stellen sich darauf ein und bieten Medical Wellness. Der Deutsche Dachverband versteht darunter „gesundheitswissenschaftlich begleitete Maßnahmen zur nachhaltigen Verbesserung der Lebensqualität und des subjektiven Gesundheitsempfindens“.
Typische Angebote bei Medical Wellness und wozu sie gut sind
Techniken, die zur Entspannung beitragen und dazu, seinen Körper zu spüren und die Umwelt wahrzunehmen, sind besonders nachgefragt.
- Yoga: Die fernöstliche Körperkultur gehört mittlerweile in den meisten Wellness-Einrichtungen zum festen Programm. Yoga wirkt sich günstig auf die seelische Verfassung aus, besonders bei einer Neigung zu Ängsten und Depressivität, und wird auch bei Migräne empfohlen. Wie jedes Bewegungsangebot tut es auch dem Herz-Kreislauf-System gut.
- Waldbaden: Es handelt sich um eine neue Form des Spazierengehens. Dabei wandert man nicht achtlos über Stock und Stein, sondern wendet die Aufmerksamkeit ganz bewusst der Natur zu. In Japan ist das Waldbaden solide untersucht. Es baut Stress ab und regt das Immunsystem an.
- Massagen: Sie entspannen einerseits, Atmung und Herz werden langsamer. Zugleich wird die Durchblutung der Haut und der massierten Muskulatur angeregt, was sich günstig auf den Stoffwechsel dieser Gewebe auswirkt.
- Entspannungstechniken: Einige Häuser bieten progressive Muskelentspannung oder autogenes Training an. Beide haben sich bewährt, um Verspannungen zu lösen, gedanklich abzuschalten und tiefergehend zu entspannen. Sie helfen später im Umgang mit Stress und bei Einschlafstörungen.
- Wie oft? Alle Praktiken wirken umso intensiver, je regelmäßiger man sie ausübt. Ein Wellness-Aufenthalt ist nur ein Anfang.
Dies ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in FOCUS-GESUNDHEIT „Reha-Kliniken 2020" – als Print-Heft oder als digitale Ausgabe.