Neulich beim Auspacken der Besorgungen aus dem Supermarkt: Was ist das denn, bitte? Vegane Bratwürstchen? Tatsächlich, beim schnellen Einkauf nach Feierabend war statt des gewohnten Grillguts eine Packung Fleischersatz im Korb gelandet. In der Eile ist einem der grüne „Veggie“-Aufdruck überhaupt nicht aufgefallen. Kann passieren – schließlich nehmen diese Lebensmittel zunehmend Platz in den Supermarktregalen ein. Der Handelskonzern Rewe etwa installierte kürzlich bundesweit in fünfzig Märkten in seinen Frischetheken eigene Bereiche für vegane Produkte. Und der norddeutsche Wursthersteller Rügenwalder Mühle erzielt mit Fleischalternativen mehr Umsatz als mit Zwiebelmett, Schinkenspicker und Aufschnitt.
Der Einkauf geschah in Eile, umso gründlicher wird nun die Zutatenliste studiert. Und die ist lang: 38 Beigaben stecken in den Veggie-Würstchen, darunter ErbsenproteinIsolat, Wasser, Speisesalz, Kartoffelstärke, das Verdickungsmittel Methylcellulose, Zucker, der Konservierungsstoff Kaliumsorbat sowie die Stabilisatoren Natriumalginat, Konjak und Guarkernmehl. Man liest und ist verblüfft. Echt jetzt? Heißt es nicht immer, dass vegetarische Ernährung so gesund sein soll?Gleichwohl lehnt der Experte Veggie-Burger und vegane Wurst nicht prinzipiell ab. „Es gibt auch Produkte, die eine gute Alternative zu Fleisch dar stellen. Für diese Lebensmittel werden Bohnen, Zwiebeln oder Pilze zerkleinert und zu Buletten gepresst“, sagt Riedl.
Hochverarbeitetes Essen ist ein ernstes Risiko für die Gesundheit
Das Versprechen, dass vegane Nahrungsmittel gesünder sind, verfängt also nicht immer. Ganz im Gegenteil: In hochprozessierter Form unterscheidet sich ein pflanzenbasierter Burger kaum von anderen stark verarbeiteten Lebensmitteln wie TK-Lasagne, Fertigsuppen, Hotdogs, Chicken Nuggets, Fruchtjoghurts, Softdrinks oder gesüßten Frühstückscerealien. Derlei ultraprocessed foods (UPFs), wie sie in der wissenschaftlichen Literatur genannt werden, gelten als wachsende Bedrohung für das Wohlbefinden.
Mehr und mehr Übersichtsarbeiten und Metaanalysen von Beobachtungsstudien bringen den Konsum von UPFs in Verbindung mit schweren Gesundheitsproblemen. So erhöhen Männer, die bevorzugt zu hochgradig verarbeiteter Kost greifen, laut einer 2022 im „British Medical Journal“ veröffentlichten Untersuchung ihr Risiko für bestimmte Darmtumoren um 72 Prozent. Auch Herz-Kreislauf-Leiden, neurodegenerative Erkrankungen und Diabetes werden mit dem Konsum von hochverarbeiteten Speisen in Verbindung gebracht.
Letztlich gehen mehr als zehn Prozent aller vorzeitigen Todesfälle auf das Konto der UPFs, schätzen Forscher der brasilianischen Universidade de São Paulo in einem ebenfalls 2022 veröffentlichten Artikel im „American Journal of Preventive Medicine“. Was macht Fertiglebensmittel derart ungesund? Die Antwort fordert keinen detektivischen Spürsinn: Hochverarbeitete Lebensmittel „enthalten oft viel Fett, insbesondere gesättigte und Trans-Fettsäuren, Salz, zugesetzten Zucker in verschiedenen Formen, haben einen hohen glykämischen Index und sind arm an Ballaststoffen, Vitaminen, Mineralstoffen und anderen bioaktiven Verbindungen“, schreibt die Ernährungswissenschaftlerin Angela Bechthold 2022 in der Januar-Ausgabe des Wissenschaftsmagazins der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE).
Welche dieser Ingredienzien im Einzelfall der Gesundheit eines Konsumenten geschadet hat, lässt sich naturgemäß schwer nachvollziehen. „Das Problem ist offenkundig multifaktoriell“, ergänzt Ernährungsmediziner Matthias Riedl, „nicht zuletzt weil industriell hergestellte Lebensmittel häufig auch noch Konservierungsstoffe, Aromen, Farbstoffe, Verdickungsmittel oder andere Zusätze enthalten.“
FOCUS-GESUNDHEIT 01/23
Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in der Ausgabe Besser leben. Weitere Themen: Studien belegen den gesundheitlichen Gewinn von Kaffee, neue Medikamente reduzieren Übergewicht. U.v.m.Zum E-Paper-Shop
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Der Großteil des verzehrten Salzes stammt aus Fertigkost
Besonders kritisch sieht der Hamburger Arzt das viele Speisesalz. „Salzreiches Essen fördert Bluthochdruck, die wichtigste Ursache für Schlaganfälle. Studien zeigen eine enge Beziehung zwischen dem Gehalt an Natriumchlorid in der Ernährung und dem Risiko für einen Hirninfarkt.“ Maximal sechs Gramm Kochsalz täglich empfiehlt die DGE; das entspricht einem Teelöffel. Tatsächlich essen Frauen durchschnittlich 8,4 Gramm und Männer zehn Gramm, zeigt eine Auswertung der „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ (DEGS).
Dabei rieselt das wenigste Salz aus dem Streuer: Bis zu 75 Prozent des verzehrten Natriumchlorids in Europa stammen laut WHO aus Brot, Wurst, Käse oder Instantsuppen. Selbst in veganen Aufschnitten steckt in der Regel zu viel von dem Würzmittel, fand Ökotest 2022 heraus. Einige der untersuchten Sorten enthielten derartige Mengen, dass sie laut der Verbraucherschützer in Finnland, wo strenge Kennzeichnungspflichten herrschen, einen Warnhinweis tragen müssten.
Ähnlich kritisch wie das Übermaß an Salz ist ein Zuviel an seinem geschmacklichen Widerpart, dem Zucker, sowie an Weißmehl. Das Mehl aus dem stärkehaltigen Mehlkern steckt zum Beispiel in Toastbrot, Brötchen, Pizzateig oder Keksen. „Bei der Verdauung wird die Stärke in Zucker auf gespalten. Das führt zu einem Anstieg des Blutzuckerspiegels und anschließend dazu, dass die Bauchspeicheldrüse vermehrt Insulin freisetzt“, erläutert Stephan Martin, Diabetologe und Direktor des Westdeutschen Diabetes und Gesundheitszentrums (WDGZ) in Düsseldorf. Insulin ist ein lebenswichtiges Stoffwechselhormon. Es sorgt dafür, dass Glukose aus dem Blut schneller in die Muskelzellen geschleust wird. Ein dauerhaft erhöhter Insulinspiegel gilt allerdings als Grundstein für verschiedene Krankheiten. „Das Hormon blockiert die Fettverbrennung, spielt eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Arteriosklerose und kann Tumorzellen zu vermehrtem Wachstum anregen“, sagt Martin.Eine Mischung aus Fett, Zucker und Salz führt zu Heißhunger
Wie rasch sich Fertiglebensmittel an Bauch und Hüfte anlagern, zeigt eine US-Studie aus dem Jahr 2019 mit 20 leicht übergewichtigen Erwachsenen. Dabei ernährte sich die eine Hälfte der Gruppe 14 Tage lang ausschließlich von UPFs; die anderen Teilnehmer langten bei Gemüse, Reis, Kartoffeln, Fleisch, Fisch, Hülsenfrüchten und anderen natürlichen Lebensmitteln zu. Alle Teilnehmer durften essen, bis sie satt waren. Das Ergebnis: Während die Probanden mit frischen Gerichten 0,9 Kilogramm Gewicht verloren, nahmen die Industrieköstler im Schnitt um 0,9 Kilogramm zu. Innerhalb von lediglich zwei Wochen öffnete sich die Gewichtsschere um 1,8 Kilogramm!
Bemerkenswert an der Untersuchung des Ernährungsforschers Kevin Hall vom National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases war zum einen, dass sich die freiwilligen Teilnehmer für die Studiendauer im Labor des Wissenschaftlers isolierten. Das macht das Experiment zu einer der wenigen Goldstandard-Studien im Ernährungssektor. Außerdem zeigte sich, dass die Probanden, die zu den hochverarbeiteten Lebensmitteln griffen, pro Tag 500 Kilokalorien mehr zu sich nahmen als die Versuchspersonen mit den frisch zubereiteten Mahlzeiten. „Fertiglebensmittel verführen Menschen dazu, mehr zu konsumieren, als sie wollen“, so die Schlussfolgerung von Stephan Martin.
Was macht die energiereichen ultraprozessierten Esswaren derart unwiderstehlich? Die verbreitete „Fressformel“-Theorie führt den Nimmersatt-Effekt auf eine verführerische Kombination aus Zucker und Fett zurück. „Aus Versuchen mit Ratten ist bekannt, dass ein Verhältnis von etwa 50 Prozent Kohlenhydraten und 35 Prozent Fett die Tiere zu Fressorgien verführt“, sagt Ernährungsmediziner Riedl. „In diesem Punkt ist der Mensch ähnlich gestrickt wie die Nager.“ Eine Nährstoffkombination, die der Fressformel entspricht, findet sich beispielsweise in Burgern, Chips, Brötchen mit Bratwurst, Schokolade, Pizza oder Pommes frites. Vielfach wird der Heißhunger zusätzlich befeuert von Geschmacksverstärkern, Aromen – und von Salz. In Versuchen mit Mäusen triggerte das Salz das Belohnungssystem im Gehirn und wirkte so appetitanregend.Das Glossar der Zusatzstoffe
- Aromen verleihen z. B. Limo, Süßwaren und Joghurts einen besseren Geschmack.
- Bindemittel geben u. a. Suppen, TK‐Kost, Pudding durch Gelbildung oder Verdickung die gewünschte Konsistenz.
- Emulgatoren verleihen Margarine Konsistenz, machen Brot haltbar oder stabilisieren die Zutaten in der Wurst.
- Farbstoffe lassen Margarine, Senf, Konfitüre, Obstkonserven und andere Lebensmittel besser aussehen.
- Feuchthaltemittel bremsen das Austrocknen vor allem von Brot und Süßwaren.
- Füllstoffe erhöhen das Volumen bei vielen kalorienarmen Light‐Produkten.
- Konservierungsstoffe verzögern den Verderb z. B. von Käse, Wurst, Brot, Fertigsalaten oder Mayonnaise.
- Säuerungsmittel verbessern Geschmack und Haltbarkeit u. a. von Marmeladen, Gemüsekonserven, Käse.
Das Lebensmittel-Logo soll Verbrauchern beim Einkaufen helfen
Laut einer Untersuchung der Universität Paderborn nehmen erwachsene Bundesbürger mittlerweile die Hälfte ihrer Kalorien aus verarbeiteten und hochverarbeiteten Lebensmitteln zu sich. Dieser Missstand hat auch die Politik auf den Plan gerufen. Seit Ende 2020 soll der auf freiwilliger Basis eingeführte Nutri-Score Konsumenten Orientierung im Supermarkt bieten: Das fünf stufige Ampelsystem vom dunkelgrünen A bis zum abschreckend roten E leuchtet auf den Verpackungen von TK-Spinat, Schlagsahne, Müsli oder Brotaufstrichen. Die jeweilige Farbe ergibt sich aus der Bewertung der verschiedenen Inhaltsstoffe. So sehen Verbraucher auf einen Blick, welches Produkt die gesündere Wahl verspricht.
Womöglich die bessere Alternative bietet ein Kennzeichnungssystem, das ein Team um den Ernährungsforscher Carlos Monteiro von der Universidade de São Paulo in Brasilien vor einigen Jahren entwickelt hat. Die sogenannte Nova-Klassifikation bewertet Nahrungsmittel nicht wie üblich anhand ihres Gehalts an Kalorien, Salz, Fett oder Zucker. Stattdessen orientiert sich das vierstufige Modell ausschließlich am Grad der Verarbeitung.
Das Nova-System: Lebensmittel und ihr Verarbeitungsgrad
Grad | Betrifft | Verarbeitung | Beispiele | Verzehr |
---|---|---|---|---|
1 | Frische Lebensmittel | frisch, getrocknet, erhitzt, gepresst, fermentiert, gefroren | Gemüse, Pilze, Kräuter, Obst, Nüsse, Samen, Getreide, Kartoffeln, Fleisch, Fisch, Eier, Milch, Joghurt, Quark, Käse, Tee, Kaffee | Basis der Ernährung, sollte Hauptanteil der Speisen sein |
2 | Zutaten, leicht verarbeitet | gepresst, raffiniert, gemahlen, getrocknet, zerkleinert | Salz, Zucker, Honig, Pflanzeöle, Essig, Getreidesärke, Backpulver (nicht einzeln verzehrt, sondern zugegeben) | in kleinen Mengen zur Zubereitung frischer Speisen |
3 | Verarbeitete Lebensmittel | geräuchert, gegärt, gepökelt, gebacken, konserviert | Brot, Brötchen, Teigwaren, Konfitüren, Aufstriche, eingelegtes Gemüse, Konserven und Eingemachtes aller Art, Bier, Wein | in eher geringen Mengen als Beigabe zu frischen Speisen |
4 | Stark verarbeitete Lebensmittel | industriell meist mit Zusätzen hergestellt | Produkte mit Zuätzen aller Art: Fertigprodukte, Cerealien, Riegel, Milchprodukte mit Fruchtzusätzen, Back‐, Süßwaren, Wurst, Fischprodukte | in geringen Mengen verzehren, möglichst verm |
Quelle: Fachgesellschaft für Ernährungstherapie und Prävention (FET) e. V.
Natürliche Genüsse wie Gemüse, Obst, Fleisch Kartoffeln, Eier oder Milch erhalten einen Nova-Score von 1. Am Ende der Skala landen Fertigprodukte, Milchsnacks, Süßwaren oder Wurst. Also Lebensmittel, die mehrere Verarbeitungsschritte durchlaufen haben und eine Reihe von Zutaten und Zusatzstoffen enthalten – die bereits bekannten UPFs. „Ein sinnvolles Schema“, urteilt Martin.
Die 2010 eingeführte „Nova Food Classification“ gab Ernährungsforschern weltweit ein standardisiertes Instrument an die Hand, um konkret zu untersuchen, wie sich der Konsum von hoch prozessierten Lebensmitteln auf die Gesundheit von Kindern und Erwachsenen auswirkt. Über dies setzte sich das Kennzeichnungssystem in Brasilien und anderen Ländern Südamerikas auf Verpackungen durch, ähnlich wie der deutsche Nutri-Score.
Ob die Einteilung nach Nährwerten oder die Gliederung nach dem Verarbeitungsgrad dem Konsumenten besser hilft, bleibt offen, solange entsprechende Vergleichsstudien fehlen. Unbestritten ist es für uns Verbraucher sinnvoll, industriell hergestellte Nahrungsmittel möglichst selten zu essen. „Man muss Fertigprodukte wie eine Art Delikatesse sehen“, sagt Diabetologe Martin. „Man gönnt sie sich mal. Aber man setzt sie nicht jeden Tag auf den Speisezettel.“