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Wie uns hochverarbeitete Lebensmittel krank machen

Ein Großteil unserer Nahrung wird heute industriell produziert. Das hat Folgen für die Gesundheit. Noch mehr als Kalorien oder Nährstoffe entscheidet der Verarbeitungsgrad darüber, wie wertvoll ein Lebensmittel wirklich ist.

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Joghurtbecher mit Löffel vor rosa Hintergrund

© iStock

Neulich beim Auspacken der Be­sorgungen aus dem Supermarkt: Was ist das denn, bitte? Vegane Bratwürstchen? Tatsächlich, beim schnellen Einkauf nach Feierabend war statt des gewohnten Grillguts eine Packung Fleischersatz im Korb gelandet. In der Eile ist einem der grüne „Veggie“­-Aufdruck überhaupt nicht aufgefallen. Kann passieren – schließlich nehmen diese Lebensmittel zunehmend Platz in den Supermarktregalen ein. Der Handelskonzern Rewe etwa installierte kürzlich bundesweit in fünfzig Märkten in seinen Frischetheken eigene Bereiche für vegane Produkte. Und der norddeut­sche Wursthersteller Rügenwalder Mühle erzielt mit Fleischalternativen mehr Umsatz als mit Zwiebelmett, Schinkenspicker und Aufschnitt.

Der Einkauf geschah in Eile, umso gründlicher wird nun die Zutatenliste studiert. Und die ist lang: 38 Beigaben stecken in den Veggie-Würstchen, darunter Erbsenprotein­Isolat, Wasser, Speisesalz, Kartoffelstärke, das Verdickungsmittel Methyl­cellulose, Zucker, der Konservierungsstoff Kalium­sorbat sowie die Stabilisatoren Natriumalginat, Konjak und Guarkernmehl. Man liest und ist verblüfft. Echt jetzt? Heißt es nicht immer, dass vegetarische Ernährung so gesund sein soll?
Ein Anruf beim Ernährungsmediziner Matthias Riedl in Hamburg. Der Ärztliche Direktor des Me­dizinischen Versorgungszentrums Medicum steht den verbreiteten Fleischersatzprodukten mit Erbsenprotein kritisch gegenüber: „Dabei handelt es sich um hochprozessierte Lebensmittel. Von der Erbse enthalten sie lediglich das Eiweiß. Der Rest besteht aus Geschmacksverstärkern, minder­wertigen Ölen, Bindemitteln und einem Dutzend weiterer Substanzen, die die Hersteller zu einer fleischähnlichen Astronautenkost vermischen.“

Gleichwohl lehnt der Experte Veggie­-Burger und vegane Wurst nicht prinzipiell ab. „Es gibt auch Produkte, die eine gute Alternative zu Fleisch dar­ stellen. Für diese Lebensmittel werden Bohnen, Zwiebeln oder Pilze zerkleinert und zu Buletten gepresst“, sagt Riedl.

Hochverarbeitetes Essen ist ein ernstes Risiko für die Gesundheit

Das Versprechen, dass vegane Nahrungsmittel gesünder sind, verfängt also nicht immer. Ganz im Gegenteil: In hochprozessierter Form unter­scheidet sich ein pflanzenbasierter Burger kaum von anderen stark verarbeiteten Lebensmitteln wie TK-­Lasagne, Fertigsuppen, Hotdogs, Chicken Nuggets, Fruchtjoghurts, Softdrinks oder gesüßten Frühstückscerealien. Derlei ultra­processed foods (UPFs), wie sie in der wissenschaftlichen Literatur genannt werden, gelten als wachsende Bedrohung für das Wohlbefinden.

Mehr und mehr Übersichtsarbeiten und Metaanalysen von Beobachtungs­studien bringen den Konsum von UPFs in Ver­bindung mit schweren Gesundheitsproblemen. So erhöhen Männer, die bevorzugt zu hochgradig verarbeiteter Kost greifen, laut einer 2022 im „British Medical Journal“ veröffentlichten Unter­suchung ihr Risiko für bestimmte Darmtumoren um 72 Prozent. Auch Herz­-Kreislauf­-Leiden, neurodegenerative Erkrankungen und Diabetes werden mit dem Konsum von hochverarbeiteten Speisen in Verbindung gebracht.

Letztlich gehen mehr als zehn Prozent aller vorzeitigen Todes­fälle auf das Konto der UPFs, schätzen Forscher der brasilianischen Universidade de São Paulo in einem ebenfalls 2022 veröffentlichten Artikel im „American Journal of Preventive Medicine“. Was macht Fertiglebensmittel derart unge­sund? Die Antwort fordert keinen detektivischen Spürsinn: Hochverarbeitete Lebensmittel „ent­halten oft viel Fett, insbesondere gesättigte und Trans­-Fettsäuren, Salz, zugesetzten Zucker in verschiedenen Formen, haben einen hohen glykämischen Index und sind arm an Ballaststoffen, Vitaminen, Mineralstoffen und anderen bio­aktiven Verbindungen“, schreibt die Ernährungswissenschaftlerin Angela Bechthold 2022 in der Januar­-Ausgabe des Wissenschaftsmagazins der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE).

Welche dieser Ingredienzien im Einzelfall der Gesundheit eines Konsumenten geschadet hat, lässt sich naturgemäß schwer nachvollziehen. „Das Problem ist offenkundig multifaktoriell“, ergänzt Ernährungsmediziner Matthias Riedl, „nicht zuletzt weil industriell hergestellte Lebensmittel häufig auch noch Konservierungsstoffe, Aromen, Farbstoffe, Verdickungsmittel oder an­dere Zusätze enthalten.“

FOCUS-GESUNDHEIT 01/23

Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in der Ausgabe Besser leben. Weitere Themen: Studien belegen den gesundheitlichen Gewinn von Kaffee, neue Medikamente reduzieren Übergewicht. U.v.m.

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Der Großteil des verzehrten Salzes stammt aus Fertigkost

Besonders kritisch sieht der Hamburger Arzt das viele Speisesalz. „Salzreiches Essen fördert Blut­hochdruck, die wichtigste Ursache für Schlag­anfälle. Studien zeigen eine enge Beziehung zwi­schen dem Gehalt an Natriumchlorid in der Er­nährung und dem Risiko für einen Hirninfarkt.“ Maximal sechs Gramm Kochsalz täglich empfiehlt die DGE; das entspricht einem Teelöffel. Tatsäch­lich essen Frauen durchschnittlich 8,4 Gramm und Männer zehn Gramm, zeigt eine Auswertung der „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ (DEGS).

Dabei rieselt das wenigste Salz aus dem Streuer: Bis zu 75 Prozent des ver­zehrten Natriumchlorids in Europa stammen laut WHO aus Brot, Wurst, Käse oder Instantsuppen. Selbst in veganen Aufschnitten steckt in der Regel zu viel von dem Würzmittel, fand Ökotest 2022 heraus. Einige der untersuchten Sorten enthielten derartige Mengen, dass sie laut der Verbraucher­schützer in Finnland, wo strenge Kennzeichnungspflichten herrschen, einen Warnhinweis tragen müssten.

Ähnlich kritisch wie das Übermaß an Salz ist ein Zuviel an seinem geschmacklichen Widerpart, dem Zucker, sowie an Weißmehl. Das Mehl aus dem stärkehaltigen Mehlkern steckt zum Beispiel in Toastbrot, Brötchen, Pizzateig oder Keksen. „Bei der Verdauung wird die Stärke in Zucker auf­ gespalten. Das führt zu einem Anstieg des Blut­zuckerspiegels und anschließend dazu, dass die Bauchspeicheldrüse vermehrt Insulin freisetzt“, erläutert Stephan Martin, Diabetologe und Direk­tor des Westdeutschen Diabetes­ und Gesund­heitszentrums (WDGZ) in Düsseldorf. Insulin ist ein lebenswichtiges Stoffwechselhormon. Es sorgt dafür, dass Glukose aus dem Blut schneller in die Muskelzellen geschleust wird. Ein dauerhaft erhöhter Insulinspiegel gilt allerdings als Grund­stein für verschiedene Krankheiten. „Das Hormon blockiert die Fettverbrennung, spielt eine wich­tige Rolle bei der Entstehung von Arteriosklerose und kann Tumorzellen zu vermehrtem Wachstum anregen“, sagt Martin.

Eine Mischung aus Fett, Zucker und Salz führt zu Heißhunger

Wie rasch sich Fertiglebensmittel an Bauch und Hüfte anlagern, zeigt eine US­-Studie aus dem Jahr 2019 mit 20 leicht übergewichtigen Erwachsenen. Dabei ernährte sich die eine Hälfte der Gruppe 14 Tage lang ausschließlich von UPFs; die anderen Teilnehmer langten bei Gemüse, Reis, Kartoffeln, Fleisch, Fisch, Hülsenfrüchten und anderen natür­lichen Lebensmitteln zu. Alle Teilnehmer durften essen, bis sie satt waren. Das Ergebnis: Während die Probanden mit frischen Gerichten 0,9 Kilo­gramm Gewicht verloren, nahmen die Industrie­köstler im Schnitt um 0,9 Kilogramm zu. Inner­halb von lediglich zwei Wochen öffnete sich die Gewichtsschere um 1,8 Kilogramm!

Bemerkenswert an der Untersuchung des Ernährungsforschers Kevin Hall vom National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases war zum einen, dass sich die freiwilligen Teilnehmer für die Studiendauer im Labor des Wissenschaftlers isolierten. Das macht das Expe­riment zu einer der wenigen Goldstandard-­Studien im Ernährungssektor. Außerdem zeigte sich, dass die Probanden, die zu den hochverarbeiteten Lebensmitteln griffen, pro Tag 500 Kilokalorien mehr zu sich nahmen als die Versuchspersonen mit den frisch zubereiteten Mahlzeiten. „Fertig­lebensmittel verführen Menschen dazu, mehr zu konsumieren, als sie wollen“, so die Schluss­folgerung von Stephan Martin.

Was macht die energiereichen ultraprozes­sierten Esswaren derart unwiderstehlich? Die verbreitete „Fressformel“­-Theorie führt den Nimmersatt­-Effekt auf eine verführerische Kom­bination aus Zucker und Fett zurück. „Aus Ver­suchen mit Ratten ist bekannt, dass ein Verhält­nis von etwa 50 Prozent Kohlenhydraten und 35 Prozent Fett die Tiere zu Fressorgien verführt“, sagt Ernährungsmediziner Riedl. „In diesem Punkt ist der Mensch ähnlich gestrickt wie die Nager.“ Eine Nährstoffkombination, die der Fressformel entspricht, findet sich beispiels­weise in Burgern, Chips, Brötchen mit Bratwurst, Schokolade, Pizza oder Pommes frites. Vielfach wird der Heißhunger zusätzlich befeuert von Geschmacksverstärkern, Aromen – und von Salz. In Versuchen mit Mäusen triggerte das Salz das Belohnungssystem im Gehirn und wirkte so appetitanregend.

Das Glossar der Zusatzstoffe

  • Aromen verleihen z. B. Limo, Süßwaren und Joghurts einen besseren Geschmack.
  • Bindemittel geben u. a. Suppen, TK‐Kost, Pudding durch Gelbildung oder Verdickung die gewünschte Konsistenz.
  • Emulgatoren verleihen Margarine Konsistenz, machen Brot haltbar oder stabilisieren die Zutaten in der Wurst.
  • Farbstoffe lassen Margarine, Senf, Konfitüre, Obstkonserven und andere Lebensmittel besser aussehen.
  • Feuchthaltemittel bremsen das Austrocknen vor allem von Brot und Süßwaren.
  • Füllstoffe erhöhen das Volumen bei vielen kalorienarmen Light‐Produkten.
  • Konservierungsstoffe verzögern den Verderb z. B. von Käse, Wurst, Brot, Fertigsalaten oder Mayonnaise.
  • Säuerungsmittel verbessern Geschmack und Haltbarkeit u. a. von Marmeladen, Gemüsekonserven, Käse.

Das Lebensmittel-Logo soll Verbrauchern beim Einkaufen helfen

Laut einer Untersuchung der Universität Pader­born nehmen erwachsene Bundesbürger mittler­weile die Hälfte ihrer Kalorien aus verarbeiteten und hochverarbeiteten Lebensmitteln zu sich. Dieser Missstand hat auch die Politik auf den Plan gerufen. Seit Ende 2020 soll der auf freiwilliger Basis eingeführte Nutri­-Score Konsumenten Orientierung im Supermarkt bieten: Das fünf­ stufige Ampelsystem vom dunkelgrünen A bis zum abschreckend roten E leuchtet auf den Ver­packungen von TK­-Spinat, Schlagsahne, Müsli oder Brotaufstrichen. Die jeweilige Farbe ergibt sich aus der Bewertung der verschiedenen In­haltsstoffe. So sehen Verbraucher auf einen Blick, welches Produkt die gesündere Wahl verspricht.

Auch wenn der Nutri-­Score von den meisten Fachleuten als Fortschritt betrachtet wird, ist die Kennzeichnung längst nicht frei von Tücken. „Kohlenhydrate kommen beim Nutri­-Score zu gut weg, dafür wird Fett über Gebühr verteufelt“, kritisiert Diabetologe Stephan Martin. „Das führt dazu, dass ein natürliches Lebensmittel wie Oli­venöl, dessen ungesättigte Fettsäuren nachweis­lich vor Herzinfarkt und Schlaganfällen schützen, lediglich ein C erhält. Umgekehrt wird industriell hergestelltes Kartoffelpüree mit B bewertet. Dabei lässt dessen Stärke den Blutzucker nur so in die Höhe schießen.“ Auch Gummibärchen, Fertig­pizza oder Light-­Cola erhalten in der Skala zu gute Noten, kritisiert der Internist.

Womöglich die bessere Alternative bietet ein Kennzeichnungssystem, das ein Team um den Ernährungsforscher Carlos Monteiro von der Universidade de São Paulo in Brasilien vor einigen Jahren entwickelt hat. Die sogenannte Nova­-Klas­sifikation bewertet Nahrungsmittel nicht wie üb­lich anhand ihres Gehalts an Kalorien, Salz, Fett oder Zucker. Stattdessen orientiert sich das vier­stufige Modell ausschließlich am Grad der Ver­arbeitung.

Das Nova-System: Lebensmittel und ihr Verarbeitungsgrad

Grad Betrifft Verarbeitung Beispiele Verzehr
1 Frische Lebensmittel frisch, getrocknet, erhitzt, gepresst, fermentiert, gefroren Gemüse, Pilze, Kräuter, Obst, Nüsse, Samen, Getreide, Kartoffeln, Fleisch, Fisch, Eier, Milch, Joghurt, Quark, Käse, Tee, Kaffee Basis der Ernährung, sollte Hauptanteil der Speisen sein
2 Zutaten, leicht verarbeitet gepresst, raffiniert, gemahlen, getrocknet, zerkleinert Salz, Zucker, Honig, Pflanzeöle, Essig, Getreidesärke, Backpulver (nicht einzeln verzehrt, sondern zugegeben) in kleinen Mengen zur Zubereitung frischer Speisen
3 Verarbeitete Lebensmittel geräuchert, gegärt, gepökelt, gebacken, konserviert Brot, Brötchen, Teigwaren, Konfitüren, Aufstriche, eingelegtes Gemüse, Konserven und Eingemachtes aller Art, Bier, Wein in eher geringen Mengen als Beigabe zu frischen Speisen
4 Stark verarbeitete Lebensmittel industriell meist mit Zusätzen hergestellt Produkte mit Zuätzen aller Art: Fertigprodukte, Cerealien, Riegel, Milchprodukte mit Fruchtzusätzen, Back‐, Süßwaren, Wurst, Fischprodukte in geringen Mengen verzehren, möglichst verm

Quelle: Fachgesellschaft für Ernährungstherapie und Prävention (FET) e. V.
 

Natürliche Ge­nüsse wie Gemüse, Obst, Fleisch Kartoffeln, Eier oder Milch erhalten einen Nova­-Score von 1. Am Ende der Skala landen Fertigprodukte, Milch­snacks, Süßwaren oder Wurst. Also Lebensmittel, die mehrere Verarbeitungsschritte durchlaufen haben und eine Reihe von Zutaten und Zusatz­stoffen enthalten – die bereits bekannten UPFs. „Ein sinnvolles Schema“, urteilt Martin.

Die 2010 eingeführte „Nova Food Classifica­tion“ gab Ernährungsforschern weltweit ein stan­dardisiertes Instrument an die Hand, um konkret zu untersuchen, wie sich der Konsum von hoch­ prozessierten Lebensmitteln auf die Gesundheit von Kindern und Erwachsenen auswirkt. Über­ dies setzte sich das Kennzeichnungssystem in Brasilien und anderen Ländern Südamerikas auf Verpackungen durch, ähnlich wie der deutsche Nutri­-Score.

Ob die Einteilung nach Nährwerten oder die Gliederung nach dem Verarbeitungsgrad dem Konsumenten besser hilft, bleibt offen, solange entsprechende Vergleichsstudien fehlen. Un­bestritten ist es für uns Verbraucher sinnvoll, industriell hergestellte Nahrungsmittel möglichst selten zu essen. „Man muss Fertigprodukte wie eine Art Delikatesse sehen“, sagt Diabetologe Martin. „Man gönnt sie sich mal. Aber man setzt sie nicht jeden Tag auf den Speisezettel.“

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