![Psychoimmunologie: Infekte und fehlgeleitete Reaktionen des Immunsystems können Persönlichkeit und Verhalten verändern. Psychoimmunologie: Frau sitzt vor einem Tisch. Sie stützt ihren Kopf mit der Hand und guckt zur nach unten.](https://s.focus-empfehlung.de/public/styles/large/public/focus-arztsuche/2020-12/16.12932794_infektionskrankheiten_mauritius.jpg?itok=z--bSWuV)
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Antibiotikum und Psyche?
Unser Experte für Psychiatrie und Psychotherapie
Ludger Tebartz van Elst, stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uni-Klinik FreiburgChaos im Kopf
Das menschliche Gehirn ist keine Insel. Infekte und fehlgeleitete Reaktionen des Immunsystems andernorts im Körper können Persönlichkeit und Verhalten verändern. Auf dieser Grundlage entwickeln Ärzte neue Behandlungsstrategien.Werbung
Verbindung von Immunsystem und Psyche
Signale des Immunsystems können das Gehirn auf unterschiedlichen Bahnen erreichen. Etwa über den Vagusnerv, die direkte Achse zwischen inneren Organen und Gehirn. Auch die von Immunzellen produzierten Zytokine können, ebenso wie die Immunzellen selbst, die Blut-Hirn-Schranke passieren und so die Kommunikation zwischen den Nervenzellen stören. Welche Art von Erregern es besonders oft schaffen, vom Körper aus das Gehirn anzugreifen, wissen die Experten noch nicht so genau. Tebartz van Elst nennt Herpesviren. Sie könnten die Bildung von aggressiven Antikörpern hervorrufen. Der Forscher Konstantin Schlaaff von der Universitätsklinik Magdeburg hat Masernviren in Verdacht.
Unser Experte für Psychiatrie und Neurologie
Tom Bschor, Psychiater und Vize-Vorsitzender der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und NeurologieBei Krankheit steigt das Bedürfnis nach Rückzug
„So eine Reaktion lässt sich in ähnlicher Weise in Tierexperimenten auslösen“, sagt Stefan Gold, Leiter des Bereichs Neuropsychiatrie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité. „Evolutionsbiologisch ergibt dieser Rückzug Sinn. Das sich krank fühlende Individuum folgt der Notwendigkeit, sich und seine Erreger von der Gruppe fernzuhalten.“ Jonathan Kipnis, ein Neurowissenschaftler von der University of Virginia in den USA, bezeichnet die krankheitsbegleitende Unlust auf Aktivitäten als eine Art „siebten Sinn des Menschen“.
Warum aber verschwindet bei den meisten mit der Immunkrise auch die leichte bis mittelschwere Depression, während sich der Zustand bei anderen verschlechtert und sie ernsthaft psychisch erkranken? Und unter welchen Bedingungen können Erreger, Immunzellen, Zytokine oder Antikörper die Blut-Hirn-Schranke überwinden? Diese aus einer dünnen Haut und Zellen der Blutgefäßwand bestehende Barriere zwischen dem Blutkreislauf und dem Zentralnervensystem schützt das Gehirn vor Giften, Hormonen und Krankheitserregern. Zum Leidwesen etwa der Alzheimer-Forscher erschwert sie es den Ärzten auch, Wirkstoffe direkt ins Gehirn einzuschleusen.Werbung
Immunzellen dringen bis in das Gehirn vor
Nun hat die Evolution als Ersatz für die unberechenbaren und potenziell aggressiven Immunzellen des Körpers ein eigenes Immunsystem für das wichtigste Organ geschaffen. Es handelt sich um sogenannte Mikrogliazellen. Sie zählen offenbar zu den ersten Opfern einer Attacke durch jene Zellen, die es durch die Blut-Hirn-Schranke schaffen, oder sie werden durch Signale gestört, die der Vagusnerv vermittelt. Für die Wahrscheinlichkeit eines solchen Angriffs spielt die Häufigkeit von Infekten eine Rolle, zeigen Verbreitungsstudien wie jene in Dänemark. Auch scheint es ein genetisches Risiko zu geben.
Die Erkenntnis, dass für einige Fälle Infektionen oder Autoimmunreaktionen verantwortlich sind, eröffnet uns neue Behandlungswege
Neue Therapiemöglichkeiten durch neue Erkenntnisse
„Die Erkenntnis, dass für einige Fälle Infektionen oder Autoimmunreaktionen verantwortlich sind, eröffnet uns neue Behandlungswege“, meint der Berliner Psychiater Tom Bschor. Denn obwohl Medikamente und Psychotherapien täglich Menschen aus einem tiefen, dunklen Gefühlsloch holen und oft das Leben retten, verzweifeln Ärzte und Betroffene an manchem Krankheitsverlauf. So sprechen rund ein Drittel der Patienten mit Depressionen nicht auf die herkömmlichen Arzneien an – so wie bei Andreas Eckart aus der Berliner Schlosspark-Klinik. Gerade für diese therapieresistenten Leiden bringen die neuen Erkenntnisse Hoffnung.
Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde leidet jeder dritte Erwachsene im Lauf seines Lebens irgendwann an der Seele – sei es an Ich-Störungen, Ängsten, Zwängen, Depressionen, Psychosen, Essstörungen oder Süchten.
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Ausblick: Psychoimmunologie
Für viele Patienten bedeuten die psychoimmunologischen Einsichten eine Erleichterung. „Die meisten sind sehr dankbar, wenn wir einen immunologischen Vorgang als Ursache ihrer psychischen Krankheit diagnostizieren“, sagt Tebartz van Elst. Dass Forscher und Mediziner langsam erkennen, wie auch der Körper die Seele krank machen kann, helfe der gesamten Psychiatrie aus einer Sackgasse, meint auch der Neurowissenschaftler Edward Bullmore von der Universität Cambridge.
Lange Zeit für sicher gehaltene Annahmen wie jene, Depressionen würden durch einen simplen Mangel an dem Glückshormon Serotonin ausgelöst, hätten sich als falsch erwiesen.
Johann Steiner, der Hirnforscher in Magdeburg, sieht die Vorteile der Psychoimmunologie eher pragmatisch. Er sagt: „Ich will dazu beitragen, dass Psychiater Diagnosen so sorgfältig wie möglich stellen.“ Spiele sich die Krankheit ausschließlich im Kopf ab, müsse man sie entsprechend behandeln – mit Psychopharmaka etwa oder psychotherapeutisch. Werde aber das Gehirn vom Immunsystem attackiert, sollten Arzt und Patient die Therapie anpassen und Antibiotika, Blutwäsche oder antientzündliche Medikamente einsetzen. So werde die Psychiatrie „präziser“ und die Behandlung besser auf den Patienten abgestimmt.
FOCUS-GESUNDHEIT 01/21
Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in der Ausgabe Einfach gut leben von FOCUS-GESUNDHEIT. Weitere Themen: Gute und schlechte Alternativen zu Zucker. Ballaststoffe senken das Risiko für viele Krankheiten u.v.m.Zum E-Paper Shop
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Wie Autoimmunerkrankungen die Psyche beeinflussen
Depressive Verstimmungen und Antriebslosigkeit sind häufige Begleiter von chronisch entzündlichen Erkrankungen. Bei Patienten mit multipler Sklerose etwa liegt das Depressionsrisiko dreimal so hoch wie in der Allgemeinbevölkerung.
Die psychische Belastung durch die Diagnose erklärt die Schwermut nur zum Teil. Ärzte glauben, dass es auch biologische Zusammenhänge gibt. Bei Untersuchungen von verstorbenen MS-Patienten fand man Gewebeschädigungen im Hippocampus des Gehirns – offenbar löst die Autoimmunreaktion diffuse Entzündungen im Denkorgan aus.
Antientzündliche Arzneien zur Immunmodulation bessern neben der Grunderkrankung auch den Gemütszustand – und zwar unabhängig von der Linderung der körperlichen Beschwerden. Die Wirkstoffe regulieren das Immunsystem, indem sie die Wirkung entzündlicher Botenstoffe, der Zytokine, abmildern.
Forscher hoffen, entzündungshemmende Medikamente aus dem Bereich der Autoimmunleiden (z. B. Sirukumab, Guselkumab) in Zukunft gezielt zur Behandlung von Depressionen einsetzen zu können. Erste Studien laufen.
*Name von der Redaktion geändert