Männergrippe: Der Begriff ist als „Man Flu“ inzwischen sogar im altehrwürdigen „Oxford Dictionary“ zu finden. Mit der Definition: „eine Erkältung oder ein ähnlich geringfügiges Leiden eines Mannes, der die Schwere der Symptome offenbar übertreibt“. Männer seien wehleidig, dramatisierten jeden Schnupfen zur Seuche, meinen viele Frauen augenrollend. Schmerzen einer Geburt könnten diese niemals ertragen, die Menschheit wäre längst ausgestorben. So weit das Klischee vom überempfindlichen Mann und der zähen Frau. Die Realität sieht anders aus.
Warum Frauen Schmerz anders empfinden als Männer
In den letzten Jahren haben Wissenschaftler begonnen, den Zusammenhang von Schmerz und Geschlecht zu erforschen. In der gesamten Medizin wurden Genderunterschiede lange kaum berücksichtigt, bis in die 1980er Jahre führte man pharmakologische Tests ausschließlich an Männern durch. In Deutschland müssen Wirknachweise für Frauen wie Männer erst seit 2004 erbracht werden – nur für neue Medikamente wohlgemerkt.
Nun zeigt sich immer mehr, dass es tatsächlich vielfältige Unterschiede gibt, die neue Therapieansätze eröffnen. Forscher stellten fest, dass die Geschlechter Schmerz auf verschiedenen neuronalen Wegen verarbeiten. Dass Frauen Schmerzen schlechter ertragen und häufiger unter chronischen Schmerzen leiden als Männer. Und dass manche Schmerzmittel bei ihnen anders wirken. Schon deshalb, weil die Körperzusammensetzung verschieden ist: Frauen besitzen mehr Fettgewebe und weniger Muskeln. Dadurch verteilt sich der Wirkstoff unterschiedlich im Gewebe. Eine Tablette braucht für den Weg durch den Körper einer Frau doppelt so lang wie durch den eines Mannes. In der Leber, die die Wirksubstanz verstoffwechselt, werden bestimme Enzyme unterschiedlich stark produziert. Somit riskieren Frauen öfter unerwünschte Nebenwirkungen.
„Schmerzsensibilität ist ganz klar eine Frage des Geschlechts“, sagt Esther Pogatzki-Zahn, Ärztin und Wissenschaftlerin an der Klinik für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin und Schmerztherapie am Uniklinikum Münster. „Aber natürlich auch eine von Genen, Hormonen, Erziehung, Prägung, Psyche und sozialem Umfeld.“
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Frauen und Männer: Wer häufiger unter welchen Schmerzen leidet
Frauen sind vulnerabler, darin sind sich die Spezialisten einig. „Sie leiden eindeutig mehr unter chronischen Schmerzen als Männer“, sagt Pogatzki-Zahn. Das trifft auf fast alle Arten von Schmerzen zu, wie Kopfschmerzen, Migräne und verschiedene Formen von Muskel-, Gelenk- und Knochenschmerzen. Die Geschlechter unterscheiden sich auch in ihrer Anfälligkeit für Erkrankungen des Gehirns und anderer Organe, die mit Schmerzen verbunden sein können. Männer leiden etwa häufiger an Parkinson, Frauen haben ein größeres Risiko für Osteoporose, das Muskelschmerzsyndrom Fibromyalgie, multiple Sklerose und rheumatoide Arthritis.
Frauen reagieren sensibler auf Schmerzreize. Um das zu messen, legen Probandinnen und Probanden etwa im Labor eine Hand auf eine Wärmeplatte, die sich erhitzt. Wenn heiß in schmerzhaft übergeht, ist die Schmerzschwelle erreicht. Hält der Versuchsteilnehmer den Schmerz nicht mehr aus und muss die Hand wegziehen, spricht man von Toleranzschwelle. „Bei Männern liegen beide Schwellen höher als bei Frauen“, so die Expertin.
Wie männliche und weibliche Tiere Schmerzen unterschiedlich empfinden
Dass Schmerzen bei den Geschlechtern über unterschiedliche biologische Mechanismen entstehen, entdeckte der Schmerzforscher Jeffrey Mogil von der kanadischen McGill University. Für seine Untersuchungen verwendete er 2012 weibliche wie männliche Mäuse. Ein Novum – zu dieser Zeit waren es in den meisten Labors ausschließlich männliche.
Bei männlichen Tieren scheinen Immunzellen im Rückenmark, die sogenannten Mikroglia, für die Schmerzverarbeitung verantwortlich zu sein. Verursacht eine Verletzung Schäden an Nervenfasern, senden die entsprechenden Nervenzellen Schmerzsignale ans Gehirn. Die Mikroglia nehmen dieses Notsignal auf und erhöhen über bestimmte Botenstoffe unter anderem die Erregbarkeit der Nervenzellen und erleichtern ihnen so die Signalübertragung.
Bei den weiblichen Tieren ist dagegen offenbar eine andere Art von Immunzellen, sogenannte T-Zellen, für die Schmerzsensibilisierung zuständig. Den Forschern zufolge soll die Präferenz für den Mikroglia-Signalweg etwas mit dem Hormon Testosteron zu tun haben. Behandelten die Forscher ihre weiblichen Mäuse damit, wechselten auch sie zu dem Mikroglia-Weg.
Mogils Entdeckung machte den Forschern eindringlich klar, wie wichtig es ist, Studien an beiden Geschlechtern durchzuführen – um zukünftig Medikamente entwickeln zu können, die an geschlechtsspezifischen Mechanismen ansetzen.
So unterschiedlich wirken Schmerzmittel bei Frauen und Männern
Neue, wirksame Mittel werden gebraucht: 20 Prozent der Menschen weltweit leiden unter chronischen Schmerzen. Forscher Mogil zufolge sollen 70 Prozent davon Frauen sein. Auch was die Wirkung gängiger Mittel angeht, gibt es Geschlechterunterschiede. „Wenn man sich den Serumspiegel von Morphin anschaut, ist die Wirksamkeit bei Frauen wahrscheinlich höher als bei Männern“, sagt Expertin Pogatzki-Zahn. Männer benötigen mehr von der Substanz.
Auf der anderen Seite leiden Frauen vielen Untersuchungen zufolge nach einer OP unter stärkeren Schmerzen. „In der Praxis muss man Schmerzmittel bei beiden Geschlechtern ähnlich dosieren“, sagt die Schmerz-Spezialistin. Ohnehin wird in den Kliniken heute nach individueller Wirksamkeit dosiert. „Es gibt bislang keine Formel, in die man Daten von Frauen und Männern eintragen und die perfekte Dosis ablesen könnte“, sagt Pogatzki-Zahn. „Dazu wissen wir noch viel zu wenig.“
Der Mensch ist mit körpereigenen Opioid-Mechanismen ausgestattet, die ihm helfen, mit köperlicher Pein umzugehen. Wissenschaftler sprechen von endogener, im Inneren erzeugter Schmerzhemmung. Auch verletzt ist der Mensch so noch in der Lage wegzulaufen. „Das liegt in unserem evolutionären Erbe“, ist Forscherin Pogatzki-Zahn überzeugt. Vereinfacht gesagt: Die Jäger, die mit einer guten Schmerzhemmung ausgestattet waren, konnten trotz Verletzungen noch vor dem Säbelzahntiger flüchten und Kinder zeugen. „Interessanterweise ist diese endogene Schmerzhemmung bei Männern viel ausgeprägter als bei Frauen“, weiß die Expertin. Für Frauen, die nicht auf die Jagd gingen, war sie überlebenstechnisch eben weniger relevant.
- 20 Prozent der Menschen weltweit leiden unter chronischen Schmerzen – meistens sind Frauen betroffen.
- 2 Mal öfter als Männer nehmen Frauen Schmerzmittel ein.
- 6 Mal häufiger als Männer erkranken Frauen an rheumatoider Arthritis – einer chronischen Schmerzerkrankung.
- 5 Mal mehr Frauen als Männer bekommen Migränemedikamente verordnet.
Einfluss der Hormone auf das Schmerzempfinden
Wenn Männer die effektivere Schmerzhemmung haben – warum bekommen nicht sie die Kinder? Auch dazu hat die Wissenschaftlerin eine Idee. „Damit Frauen die Geburtssituation trotz übermächtiger Schmerzen überleben und weitere Geburten ertragen, musste ihr Schmerzempfinden zu diesem Zeitpunkt nachgebessert werden“, vermutet Pogatzki-Zahn. Daher passt sich in der Schwangerschaft das eigentlich weniger belastbare endogene System der Frauen an das der Männer an – aktiviert durch Hormone. Sind die Kinder geboren, die Hormone nicht mehr aktiv, schaltet der Körper wieder um in dieselbe Ausgangslage wie vorher. Ob das gehäufte Auftreten von chronischen Schmerzkrankheiten bei Frauen mit ihrer von Natur aus schlechteren Schmerzhemmung zusammenhängt, ist den Forschern noch unklar.
Im komplexen Zusammenspiel von Schmerzentstehung und -empfindung sind die Sexualhormone ein entscheidender Schalthebel. „Das kann man am Fall der Migräne gut belegen“, sagt Pogatzki-Zahn. Vor der Pubertät leiden Jungen und Mädchen gleich stark unter Schmerzattacken. Mit Beginn der Pubertät sind weit mehr Mädchen bzw. Frauen betroffen. Erst mit dem Einsetzen der Menopause gleichen sich die Häufigkeiten der Geschlechter wieder an. „Wir vermuten, dass vor allem der plötzliche Östrogenabfall während der Ovulation zum Migräneanfall führt“, sagt die Expertin. Bei vielen anderen Schmerzereignissen, etwa nach Operationen, gilt dagegen: je mehr Progesteron, desto mehr Schmerzen. „In unseren Laboruntersuchungen und vorläufigen Daten unserer Studie bedingen sich Progesteron-Level und das Auftreten von Schmerzen extrem gut“.
Testosteron dagegen scheint eine Schutzwirkung zu haben. „Wir sehen das in unseren Studien“, so die Wissenschaftlerin. Nicht wenige weibliche Schmerzpatientinnen nehmen aus diesem Grund Testosteron-Präparate ein.
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Einfluss der Gene auf das Schmerzempfinden
Wie intensiv sind Schmerzen? Entwickelt jemand eine Chronifizierung oder nicht? Wie gut oder schlecht wirken Medikamente wie Aspirin? Darüber entscheiden unsere Gene mit. „Sie sind für 40 bis 60 Prozent dieser Abweichungen verantwortlich“, sagt Forscher Jeffrey Mogil.
„Am Schmerzgeschehen sind nach aktueller Ansicht von Genetikexperten rund 4000 verschiedene Gene beteiligt.“ Entdeckt hat man bislang gerade mal 80. „Diese Gene sitzen aber nicht unbedingt auf dem weiblichen X- oder männlichen Y-Chromosom, sondern auch auf völlig anderen“, weiß Pogatzki-Zahn. Ein Beispiel: Rothaarige Frauen mit heller Haut besitzen ein bestimmtes Gen, Melancortin-1, das sie davor schützt, stärkere Schmerzen zu spüren. Opiate wirken bei ihnen stärker, auf Narkosemittel reagieren sie paradoxerweise unempfindlicher.
Rollenerwartungen beeinflussen die Schmerzäußerung
In vielen Kulturen gilt Schmerzäußerung als Zeichen von Schwäche. Patriarchalische Gesellschaften erziehen Jungen dazu, ihre Schmerzen zu unterdrücken („ein Indianer kennt keinen Schmerz“). Man erwartet von Männern, dass sie die Zähne zusammenbeißen, es ist ihnen peinlich, ihren Schmerz zu zeigen. Mädchen werden dagegen ermutigt, ihre Gefühle zu äußern, Angst und Schmerzen ihrer Umwelt mitzuteilen. „Dazu gibt es spannende Untersuchungen aus dem experimentellen Bereich“, berichtet Forscherin Pogatzki-Zahn. „Sehr maskuline Testosteron-Männer haben möglicherweise eine hohe Schmerztoleranz, das untersuchen wir gerade.“
Wenn eine attraktive Frau das Experiment leitete, fiel der Effekt noch viel höher aus. „Man merkt: Dieser Aspekt ist nicht nur physiologisch, sondern eher psychologisch“, so die Expertin. Die Männlichkeit muss gezeigt werden. Für Frauen gilt eher das Gegenteil: Sitzt ein attraktiver Mann da, zeigen sie sich schneller als sonst hilfsbedürftig. So macht es nachweislich auch einen Unterschied, ob sich nach einer Operation ein Arzt oder eine Ärztin bei dem Patienten nach Schmerzen erkundigt. „Diese traditionellen Geschlechterrollen und damit verbundenen Erwartungen lösen sich derzeit etwas auf, das Verständnis von Männlichkeit definiert sich neu“, meint Pogatzki-Zahn. Der heutige Mann darf weich sein, die Frau tough. „Diese Effekte werden auch im Umgang mit Schmerzen etwas verändern“, so die Forscherin.
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Den Umgang mit Schmerz erlernen
Soziale und psychische Faktoren formen die Schmerzsensibilität. „Chronischer Schmerz hat immer Anteile aus körperlichen und seelischen Faktoren und auch mit dem sozialen Umfeld zu tun“, sagt Andreas Kopf, Schmerz- und Palliativmediziner an der Berliner Charité. Was hat ein Mensch für Erfahrungen mit Schmerzen gemacht? Was haben Eltern vorgelebt? „Kinder von Frauen mit Migräne reagieren zum Beispiel nachweislich stärker auf Schmerzen“, sagt Kopf. Ob eine Veranlagung zum Tragen kommt, ein Gen tatsächlich angeschaltet wird, ist auch an Verhaltensweisen gekoppelt. „Ein Vater, der Fakir ist, zeigt, dass man mit Meditation Schmerzen gut aushalten kann“, verdeutlicht Spezialist Kopf. „Eine Mutter mit Migräne dagegen, die Tage hinter geschlossenen Jalousien im Bett liegt, dass Schmerz nicht aushaltbar ist“, so der Experte.
Der erlernte Umgang prägt das ganze Leben. „Prävention beginnt, wenn Menschen noch gar keine Schmerzen haben“, ist Medizinerin Pogatzki-Zahn überzeugt. Wird das Kleinkind mit Fürsorge überschüttet, wenn es sich das Knie aufschlägt, lernt es nicht, sich selbst zu beruhigen. Verfrachtet eine Mutter die von Regelschmerzen geplagte Tochter mit Wärmflasche ins Bett, wird diese sich auch später auf den Schmerz fokussieren.
Schmerzen sind ein komplexes Phänomen. Wenn sie sich verselbstständigen, beziehen Ärzte die ganze Lebenssituation der Patienten in die Behandlung mit ein. „Mit dem Wissen über entscheidende Faktoren wie Geschlecht und Hormone können wir in Zukunft Konzepte entwickeln, die eher Männer bzw. eher Frauen ansprechen und so effektiver helfen“, sagt Pogatzki-Zahn. „Darauf arbeiten wir hin.“
Dies ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in FOCUS-GESUNDHEIT „Frau/Hormone" – als Print-Heft oder als digitale Ausgabe.