Herr Kayser, elf Millionen Sinneseindrücke prasseln jede Sekunde auf uns ein. Wie kommt das Gehirn mit dieser Flut zurecht?
Christoph Kayser: Es gibt so viele Reize in der Umwelt, dass der Mensch sie nicht alle gleichzeitig wahrnehmen und verarbeiten kann. Wir wählen aus, indem wir die Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge lenken – bewusst oder unbewusst. Bekanntes, Überraschendes und Neues fesselt das Gehirn.
Unser Experte für Neurowissenschaften
Prof. Christoph Kayser, Leiter der Forschungsgruppe „Kognitive Neurowissenschaften“ an der Universität Bielefeld.Die Sinnesreize kommen in unterschiedlichen Bereichen des Gehirns an. Hat das einen Einfluss auf die Wahrnehmung?Welche Rolle die Lage spielt, darüber kann ich nur spekulieren. Das Riechzentrum sitzt beispielsweise im Zentrum des Gehirns. Es ist direkt mit anderen Bereichen verknüpft – und das macht einen Unterschied. Gerüche beeinflussen uns oft unbewusst und regen Emotionen an. So kann uns ein positiv verknüpfter Duft, zum Beispiel von Rosen, entspannen. Visuelle Informationen dagegen sehen wir oder haben sie gänzlich verpasst. Wenn wir das Eichhörnchen beim Joggen nicht sehen, löst es auch nichts in uns aus. Sie gehen also direkt durchs Bewusstsein.
Auch die Größen der Hirnareale, in denen bestimmte Informationen verarbeitet werden, sind verschieden. Der Mensch ist ein Augentier, das heißt, wir orientieren uns stark an visuellen Reizen. Das Sehzentrum nimmt proportional einen größeren Teil des Gehirns ein als die Riechrinde. Bei Hunden ist das umgekehrt.
Ist es dann nicht ungünstig, wenn das Sehzentrum am Hinterkopf liegt und die Information erst durch das ganze Gehirn geleitet werden muss?
Das langsame beim Sehen ist die Netzhaut des Auges, die optische Signale in Nervenimpulse umwandelt. Da spielt es im Vergleich keine Rolle, dass die Information anschließend einmal durch das Gehirn wandert. Die elektrischen Signale entlang einer Nervenzelle erreichen bis zu 360 Kilometer pro Stunde!
Die Verarbeitung einzelner Sinneseindrücke ist aber nur ein Teil der Sinneswahrnehmung.
Richtig. Wir konnten zeigen, Sinneseindrücke von außen durchlaufen in der Regel einen dreistufigen Prozess:
Zunächst verarbeiten bestimmte Teile des Gehirns die Information: das Sehsystem das Gesehene, das Hörsystem das Gehörte.
Andere Bereiche des Denkorgans kombinieren die Wahrnehmungen automatisch. Dieser Vorgang findet zunächst unbewusst statt.
In einem dritten Schritt prüft das Gehirn, ob die Sinneseindrücke zusammenpassen. Das bezeichnen wir als kausale Interferenz. Ist der Unterschied klein, sickert die kombinierte Information ins Bewusstsein. Passen die Wahrnehmungen nicht recht zueinander, nutzen wir nur einen Teil der Information – den relevanten.
Können Sie ein Beispiel nennen, wie das Gehirn Sinneseindrücke kombiniert?
Um eine andere Person in einer lauten Bar akustisch zu verstehen, hilft es, wenn das Gehirn die Lippenbewegungen hinzuzieht. Bei einem schlecht synchronisierten Film ist das eher störend. Im ersten Fall werden die Lippenbewegungen also ausgewertet, im zweiten ausgeblendet. Wo es sinnvoll erscheint, nutzt das Denkorgan Synergien, um die Sinneswahrnehmung zu verbessern.
Gleichzeitig setzt es eine Art Filter ein, der uns vor Überforderung schützt. Vermutlich lernen wir auch effektiver, wenn solche Kombinationszentren angesprochen werden. Studien zeigen: Das Gehirn merkt sich Dinge besser, wenn wir sie mit unterschiedlichen Sinnen wahrnehmen.
Der 3-Stufen Prozess: So verarbeitet das Gehirn Sinneseindrücke
Wie haben Sie diesen dreistufigen Prozess, mit dem das Gehirn Sinneswahrnehmungen verarbeitet, entdeckt?
Wir haben Probanden ein Geräusch vorgespielt, das aus mehreren Pulsen bestand und parallel Lichtblitze gezeigt. Sie mussten sagen, wie viele Töne sie gehört beziehungsweise Lichtpulse sie gesehen hatten. Manchmal stimmten die Frequenzen überein, ein andermal nicht.
Dauert dieses Stufensystem nicht ziemlich lange?
Tatsächlich haben wir herausgefunden, wenn es schnell gehen muss, hat die zweite Stufe der Sinneskombination einen größeren Einfluss auf das Verhalten. Das Gehirn kürzt dann ab und durchläuft nicht mehr alle drei Stufen. In Gefahrensituationen kann das entscheidend sein.
Im Versuch konnten wir das simulieren, indem wir den Testpersonen für das Lösen einer Aufgabe nur eine geringe Zeit einräumten.
Quellen
- Cao Y et al.: Causal Inference in the Multisensory Brain.;Neuron; 2019; DOI: 10.1016/j.neuron.2019.03.043
- Pressemeldung Universität Bielefeld: Wie das Gehirn Sinnesreize kombiniert; 09.05.2019