Susanna Puškaric presst konzentriert die Lippen aufeinander. Im Einbeinstand balanciert die 49-Jährige auf einem blauen Schaumstoffkissen. Sich auf der weichen Unterlage halten ist eine Wackelpartie. Aber sie schafft es – trotz der beiden künstlichen Hüftgelenke, die sie vor gut einem Jahr eingesetzt bekam. „Die Übung stärkt die tiefer liegende, feine Muskulatur. Sie ist wichtig, um die Gelenke zu entlasten und zu stabilisieren“, erklärt Markus Baumeister, Sportwissenschaftler am Zentrum für ambulante Rehabilitation (ZAR) in München. Puškaric trainiert einmal die Woche mit elf anderen Teilnehmern unter Baumeisters Anleitung am ZAR. „Ich will Kraft und Ausdauer gewinnen und wieder stabiler werden“, sagt die Management-Assistentin. „Gemeinsam macht Sport einfach mehr Spaß. Wir motivieren uns gegenseitig.“
„Ich möchte, dass ihr jetzt jeweils zehn kleine Trippelschritte vor, auf und hinter dem Wackelkissen macht. Dann geht es rückwärts zurück. Wenn ich in die Hände klatsche, bleibt ihr dort, wo ihr gerade seid, auf einem Bein stehen“, leitet Baumeister die nächste Übung an. Das Reha-Sportprogramm stimmt der Trainer auf die Gruppe ab. Er muss Bescheid wissen, welche Erkrankungen die einzelnen Teilnehmer hatten und wo Bewegungseinschränkungen vorliegen. „Manches kann ich mit meinen künstlichen Hüften nicht machen“, weiß Puškaric.
Trainingsleiter Baumeister bietet in solchen Fällen Alternativübungen an. Viele Trainingseinheiten erklärt er in verschiedenen Schwierigkeitsstufen. Wer einbeinig auf dem Schaumstoffkissen schnell das Gleichgewicht verliert, stellt den zweiten Fuß mit dem Ballen ab, um mehr Stabilität zu gewinnen. Beim anschließenden Hanteltraining zur Stärkung der Oberarmmuskulatur wählen die Reha-Sportler zwischen unterschiedlichen Gewichten. Je nachdem, wie viel sie sich zumuten möchten.
Reha-Sport: Training für den ganzen Körper
„Reha-Sport ist ganzheitlich ausgerichtet“, erklärt Sportwissenschaftler Baumeister. Trainiert wird der gesamte Körper: Beine, Arme, Rumpf. Die Teilnehmer müssen keine Rekorde brechen, Reha-Sport fordert sanft und soll Spaß machen. Baumeister bringt seinen Patienten gern funktionelle Übungen bei, die in den Alltag übertragbar sind.
Kniebeugen helfen später beim Schuhezubinden, das Strecken der Arme nach oben, etwas vom Küchenregal herunterzuangeln. Benutzt werden Kleinmaterialien wie Hanteln oder die Wackelkissen – Dinge, die sich die Patienten auch für zu Hause besorgen können. Das wöchentliche Training soll Anregungen geben, selbstständig weiterzuüben. Der Trainer ist relativ frei bei der Zusammenstellung des Reha-Sport-Programms – auch Ballspiele sind möglich, Übungen im Wasser oder Ausdauertraining auf dem Fahrradergometer, wenn die entsprechende Ausstattung vorhanden ist.
Werbung
Was ist Reha-Sport?
In der Rehabilitation unterschiedlicher Erkrankungen ist Sport heute einer der wichtigsten Bausteine für nahezu alle Indikationen – von orthopädischer, kardiologischer und neurologischer Reha bis zu onkologischer oder psychischer Wiederherstellung. Um die heilsame Wirkung von körperlicher Aktivität wissen Ärzte schon lange, aber neue wissenschaftliche Erkenntnisse untermauern diesen Ansatz.
Erst 2007 entdeckten dänische Wissenschaftler um Bente Klarlund Pedersen von der Universität in Kopenhagen, dass aktive Muskeln Heilsubstanzen produzieren und in den Körper abgeben. Die Experten schätzen, dass es zwischen 200 und 600 dieser sogenannten Myokine gibt. Sie wirken entzündungshemmend, stärken das Immunsystem oder fördern die Neubildung von Knochen und den Fettstoffwechsel.
Entscheidend für den Erfolg der Bewegungstherapie ist die Regelmäßigkeit – auch nach der stationären Rehabilitation in einer Klinik. „Patienten sollten das Trainingsprogramm zu Hause weiterführen“, sagt Susanne Götschl, Chefärztin für Orthopädie in der Klinik im Alpenpark am Tegernsee. Im Durchschnitt dauert die Anschlussheilbehandlung nach einer Operation drei bis vier Wochen. „Danach passiert noch ein Großteil der Heilung“, so Götschl. Die Expertin schätzt, dass die anschließende Therapie, zu der Sport dazugehört, mindestens noch einmal acht Wochen in Anspruch nimmt, abhängig von der Indikation.
Die Spezialistenteams in den Reha-Kliniken sorgen dafür, dass Patienten eine optimale Ausgangsposition für die weitere Genesung haben und ambulant weiterüben können. „Nach der Anschlussheilbehandlung sind die Wunden verschlossen, Schmerzen größtenteils abgeklungen, und die Patienten haben so viel Sicherheit in der Bewegung, dass sie zurück in den Alltag kehren können. Aber zurücklehnen dürfen sie sich noch lange nicht“, sagt Hasso Balasch, Chefarzt der Orthopädie im Medical Park Kronprinz in Prien am Chiemsee, wo Puškaric ihren stationären Reha-Aufenthalt verbrachte.
Reha-Sport zu Hause und in der Gruppe
Ein wichtiger Bestandteil des nachfolgenden ambulanten Trainings sind Übungen für zu Hause. „Die Patienten bekommen bei uns ein Buch mit individualisierten Aufzeichnungen zu Trainingsaufgaben, die sie selbstständig durchführen können“, erklärt Balasch. Diese Übungen funktionieren mit einfachen Geräten wie einem Theraband oder ganz ohne Hilfsmittel. Reha-Sport ist eine Möglichkeit, gemeinsam mit anderen und unter fachkundiger Anleitung weiterzutrainieren. Die Kosten übernimmt die Krankenkasse. Jeder Patient kann das Angebot nutzen, nicht nur berufstätige, wie dies bei Leistungen der Deutschen Rentenversicherung, etwa dem IRENA-Programm, der Fall ist. Den Antrag stellt der behandelnde Facharzt oder der Mediziner in der Reha-Klinik.
Werbung
Ab wann Reha-Sport?
Balasch empfiehlt, nicht zu früh nach der Anschlussheilbehandlung in der Klinik mit dem Reha-Sport zu beginnen. „Das Reha-Sportprogramm kommt nur für Patienten infrage, die sicher gehen und stehen können und schon ein gewisses Maß an Beweglichkeit mitbringen. Denn wie der Name schon sagt, handelt es sich um ein Sportangebot“, erläutert der Experte.
Nach einer Hüft-OP besteht in den ersten sechs Wochen zum Beispiel noch die Gefahr, dass bei einer falschen Bewegung die Kugel aus der Gelenkpfanne rausrutscht. „Oftmals ist es sinnvoller, nach der Anschlussheilbehandlung noch vier Wochen abzuwarten und die Zeit bis dahin mit Eigenübungen und Einzelphysiotherapie auf Rezeptbasis zu überbrücken“, so Balasch. Manchmal dauert es ohnehin einige Wochen, bis ein Platz in einer Reha-Sportgruppe frei wird.
Die passende Reha-Sportgruppe finden
- Ist die Gruppe für Ihre Indikation geeignet?
Anbieter von Reha-Sportprogrammen müssen angeben, an welche Patientengruppen sich ihr Angebot richtet – etwa für die orthopädische Reha. - Ist der Trainer qualifiziert?
Mediziner, Sportwissenschaftler oder Physiotherapeuten können die Einschränkungen der Teilnehmer oft besser einschätzen. Mindestens benötigt die Leitung eine Zusatzqualifikation für Reha-Sport. - Fühlen Sie sich wohl?
Die anderen Patienten und der Trainer sollten Ihnen sympathisch sein. Nur wenn der Reha-Sport Spaß macht, motiviert er zu mehr Bewegung.
Tipp: Meist ist es möglich, ein Probetraining zu buchen, bevor Sie sich fest anmelden.
Wie wirkt Reha-Sport?
Doch es lohnt sich dranzubleiben. „Körperliche Aktivität, die über das tagtägliche Maß hinausgeht, ist wichtig für eine optimale Regeneration“, sagt Balasch. Sobald Patienten sich wieder wie früher im täglichen Leben bewegen, die Treppen problemlos hochkommen oder die Schuhe binden können, fördert Reha-Sport die Beweglichkeit weiter. „Mit dieser Maßnahme lässt sich das letzte Bisschen an Geschicklichkeit und Koordinationsfähigkeit herausholen.
Ohne die spezifische körperliche Aktivität fehlen, grob geschätzt, die letzten fünf Prozent“, sagt Balasch. Patienten, die der Orthopäde nach dem Reha-Klinikaufenthalt noch einmal gesprochen hatte, berichteten, durch den Reha-Sport eine deutliche Verbesserung erzielt zu haben, wenn sie nicht zu früh damit begonnen hatten.
„Reha-Sport wirkt auch präventiv und soll weitere Verletzungen und Probleme verhindern“, fügt Baumeister hinzu. Ein aktiver Lebensstil zahlt sich in der Reha aus. Wer vor einer Erkrankung eher bewegungsscheu war, benötigt länger, um zu alter Form zurückzufinden. „Je stärker der Muskelmantel, desto schneller können Patienten nach einer Operation wieder körperlich aktiv sein“, sagt Reha-Klinikärztin Götschl.
Wissenschaftliche Untersuchungen über die Wirksamkeit des Reha-Sports gibt es dagegen kaum. Eine Studie der Technischen Universität in Dresden unter Leitung von Heidrun Beck untersuchte den Effekt von Reha-Sport auf 160 Patienten mit einem künstlichen Hüftgelenk. Beck und ihr Team teilten die Testpersonen in eine aktive Gruppe, die an einem Reha-Sportprogramm teilnahm, und eine Kontrollgruppe, die nur selbstständig Übungen zu Hause durchführte. Zu Beginn des Programms, sechs Monate und zwölf Monate nach der Operation, begutachteten Beck und Kollegen die Patienten.
Die Muskeln, welche das Hüftgelenk umgeben und stabilisieren, waren in der Reha-Sportgruppe nicht signifikant kräftiger als bei den Kontrollpatienten. Kleinere Effekte maßen die Wissenschaftler bei den Schmerzen, die die Reha-Sportler nach einem Jahr geringer einstuften als die Vergleichsgruppe. Ebenso war die gesundheitsbezogene Lebensqualität bei den Testpersonen mit angeleitetem Sportprogramm nach einem halben Jahr stärker angestiegen als bei Selbstübern. Allerdings brachen viele Probanden den Reha-Sport während der Studie ab, sodass die Wissenschaftler selbst vorschlagen, den Versuch mit mehr Testpatienten zu wiederholen.
Werbung
Reha-Sport: Motivation als Schlüsselfaktor
Die guten Vorsätze, sich mehr zu bewegen, sinken bei vielen Patienten nach dem Reha-Klinikaufenthalt schnell. Puškaric motivierte der Leidensdruck vor der Operation. „Mir ist es nie schwergefallen, mich für den Reha-Sport und die Übungen, die ich zu Hause selbstständig mache, aufzuraffen“, erzählt sie. „Ich bin einfach froh, dass ich nicht im Rollstuhl sitze.“ Noch vor gut einem Jahr plagten die Management-Assistentin so starke Schmerzen, dass sie es manchmal vorzog, im Winter ohne Socken rumzulaufen. „Es war so anstrengend, die Schuhe anzuziehen“, erzählt sie. Zwei Jahre lang konnte sie nicht arbeiten.
Zuerst vermuteten die Ärzte Rückenprobleme. Die Diagnose der Hüftgelenksabnutzung war dann wie eine Befreiung für Puškaric. Im Juni letzten Jahres bekam sie zwei künstliche Hüftgelenke eingesetzt. Ein genetischer Defekt hatte zu einer Unterversorgung der Gelenke und dadurch zu einem frühen Verschleiß geführt.
Auch die unmittelbaren Effekte der Bewegung schätzt die 49-Jährige. „Ich merke einfach, dass mir der Reha-Sport guttut.“ Nach einem langen Arbeitstag am Computer ist die Bürokraft häufig verspannt. Die 45 Minuten unter Baumeisters Anleitung lassen die Verkrampfungen der Muskulatur verschwinden.
Reha-Sport: Empfehlungen für den Alltag
Balasch rät, sich nicht zu viel vorzunehmen. „Ich empfehle, drei bis vier Übungen jeden Tag zehn Minuten lang auszuführen.“ Das ließe sich in die Tagesroutine ähnlich wie das Zähneputzen integrieren. Eulen könnten gut abends üben, Frühaufsteher morgens vor der Arbeit oder dem Beginn der Tagesroutine. „Bei zu vielen Übungen besteht die Gefahr, dass der Patient sie nicht richtig durchführt“, so Balasch.
Nach einem Jahr, so empfiehlt der Orthopäde, sollten sich Patienten vom Facharzt ein Rezept für eine Physiotherapieeinheit zur Überprüfung des persönlichen Trainings ausstellen lassen. Mit dem Therapeuten kann besprochen werden, ob die Übungen für den Gesundheitszustand noch passend sind oder eventuell verändert werden sollten – und auch, ob ihre Ausführung korrekt ist.
Egal, ob Patienten selbstständig üben oder in der Reha-Sportgruppe, nach einer Operation ist eine gewisse Vorsicht geboten. „Zu jeder Reha gehören auch Schulungen, bei denen der Patient nochmals über seine Operation aufgeklärt wird und lernt, worauf er zu Hause achten muss“, erklärt Götschl. Wer erst seit vier Wochen eine neue Hüfte hat, sollte zum Beispiel nicht unters Bett kriechen, um etwas aufzuheben.
Werbung
Reha-Sport: Wie viel Schmerz ist in Ordnung?
„Ich höre beim Trainieren stark auf meinen Körper“, erzählt Puškaric. Das hat die Patientin in der stationären Reha am Chiemsee gelernt. „Es war ein längerer Prozess, bis ich das wirklich verinnerlicht hatte.“ Baumeister kann zwar korrigieren, wenn Patienten Übungen falsch ausführen – in die Menschen hineinsehen ist ihm aber nicht möglich. „Spürt der Reha-Sport-Teilnehmer einen akuten stärkeren Schmerz, meist ist das ein stechender Schmerz, sollte er die Übung abbrechen“, so der Sportwissenschaftler. Das ist ein Warnzeichen, dass das Gelenk überbeansprucht wurde.
Häufiger kommt es vor, dass Patienten sich während des Sports gut fühlen, vielleicht ein leichtes Ziehen in den Muskeln spüren, aber später treten Schmerzen auf. „Klingen sie nach ein paar Stunden wieder ab, müssen sie sich keine Sorgen machen. Der Grund war dann eine leichte Überbelastung. Der Körper muss sich erst wieder an seine Grenzen gewöhnen. Ich empfehle den Patienten dann, die nächste Sporteinheit etwas langsamer anzugehen“, so Reha-Klinikarzt Balasch. Wenn Probleme über einen längeren Zeitraum bestehen bleiben (über Nacht), sollten Betroffene Rücksprache mit ihrem Arzt halten.
Puškaric ist mit dem Ergebnis ihrer Rehabilitationsmaßnahmen sehr zufrieden. „Heute habe ich keine Schmerzen mehr und auch keine größeren Einschränkungen in meiner Beweglichkeit“, sagt sie. Inzwischen hat sie sich auch in einem Fitness-Studio angemeldet, dort trainiert sie zusätzlich Kraft und Ausdauer.
Dies ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in FOCUS-GESUNDHEIT „Reha-Kliniken 2020" – als Print-Heft oder als digitale Ausgabe.