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Psychokardiologie: Herz frisst Seele

Operationen am Herz konfrontieren Patienten mit der eigenen Sterblichkeit – nicht selten entstehen Ängste. Richtig behandelt, sind chronische psychische Erkrankungen vermeidbar.

Geprüft von Jochen Niehaus, Chefredakteur FOCUS-GESUNDHEIT

Veröffentlicht: 2023-03-13T18:09:59+01:00

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Sabrina Lorenz – Patientin mit angeborenem Herzfehler

© Sabrina Lorenz / Fragments of Living

Wenn Sabrina Lorenz das Haus verlässt, ist sie stets auf einen Notfall vorbereitet. Der mobile Sauerstoff ist im Gepäck, der Akku geladen. Plant die 24-Jährige eine Reise, interessiert sie die Frage, ob es vor Ort ein Krankenhaus gibt, in dem man ihr bei einer Komplikation helfen kann, mehr als das Kriterium, ob ein Pool oder eine hübsche Strandbar vorhanden sind. Sie recherchiert akribisch, wo sie früh genug eine Steckdose zur Verfügung hat, um ihr Sauerstoffgerät aufzuladen, und bespricht mit Mitreisenden, was im Notfall zu tun ist.

Seit ihrer Kindheit lebt Lorenz mit einer seltenen Herzerkrankung, einem hypoplastischen Linksherzsyndrom. Die linke Herzhälfte und der von ihr ausgehende Teil der Hauptschlagader sind von Geburt an defekt. In der Folge kann das Herz nicht genügend Blut durch den Körper pumpen, und die Organe werden nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Sabrina Lorenz wurde sofort nach ihrer Geburt am Herz operiert, sie hätte sonst keine Überlebenschance gehabt.

Wenn die Kontrolle entgleitet


„Meine größte Angst ist, keine kompetente Hilfe zu bekommen, wenn ich sie benötige“, sagt sie heute. Ihre Krankheit ist selten, genau wie die damit einhergehenden Komplikationen. „Ich bin oft ein medizinisches Rätsel.“ Diese Angst wurde im vergangen Winter wahr. Nach einer lebensrettenden OP, die anders verlief als geplant, entwickelte sie eine posttraumatische Belastungsstörung.

„Viele Menschen mit Herzerkrankungen haben das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren“, erklärt Corinna Pfeiffer, Leiterin der Abteilung für Psychokardiologie in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der LVR-Universitätsklinik Essen. Das Herz ist der Motor des Lebens. Operationen am Herz können Gefühle wie Panik auslösen. „Die Patienten sind mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert, und das macht Angst“, so Pfeiffer.

Unsere Expertin für Psychokardiologie

Dr. Corinna Pfeiffer, Leiterin der Abteilung für Psychokardiologie in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der LVR-Universitätsklinik Essen

Junge Menschen mit chronischen Herzerkrankungen erleben früh, dass sie anders sind und mit Gleichaltrigen nicht mithalten können. Akutereignisse wie ein Herzinfarkt ändern das Leben von einem Tag auf den anderen und wirken oftmals wie ein Schock. Eben noch mitten im Berufs- und Familienalltag, erleben sich Betroffene plötzlich als schwach und verwundbar. Das triggert die Angst vor einem weiteren Infarkt. Löst ein neu implantierter Defibrillator das erste Mal aus, kann das traumatisieren. Ein krankes Herz hinterlässt Spuren auf der Seele.

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Ein Herz und eine Seele

Nicht selten entwickeln sich die Ängste der Herzpatienten zu psychischen Erkrankungen. So leidet nach einem akuten Herzinfarkt etwa ein Drittel an depressiven Symptomen. 20 bis 40 Prozent aller Herzpatienten bekommen Angststörungen. Weitere psychische Erkrankungen, die oft durch Herzprobleme ausgelöst werden, sind Anpassungsstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen. Ein Teufelskreis, denn Herz und Psyche sind eng verbunden und beeinflussen sich gegenseitig.

Psychische Erkrankungen beeinträchtigen den Heilungsverlauf. „Bei Angst schüttet der Körper Katecholamine aus. Sie lassen den Blutdruck steigen und schädigen langfristig das Herz-Kreislauf-System“, erläutert Kardiologin Pfeiffer. Katecholamine werden auch bei Stress gebildet. Ein Grund, warum psychische Belastungen das Herz nachweislich schädigen.

Atemübung für mehr Entspannung

Atemnübung

© Veronika Graf für FOCUS-Gesundheit

Atmen wie im Schlaf: So gaukeln Sie Ihrem Körper Nachtruhe vor, um sich zu entspannen

„Ich hätte mir im Krankenhaus gewünscht, nicht nur als der ‚Herzfehler auf Zimmer 25‘ gesehen zu werden, sondern mit meiner Psyche, meinen Emotionen, meinem sozialen Umfeld und den mir zur Verfügung stehenden Ressourcen“, sagt Patientin Lorenz. Genau hier setzt die junge Disziplin der Psychokardiologie an. Sie beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen Herzerkrankungen und dem seelischen Befinden von Betroffenen.

Bis in die 1990er-Jahre vertrat die Kardiologie ein stark mechanisch geprägtes Bild der Pumpe. Heute schärft sich zunehmend das Bewusstsein, wie wichtig die seelische Gesundheit der Herzpatienten für den Behandlungserfolg ist und dass Menschen nach kardialen Ereignissen mitunter psychische Begleiterkrankungen bekommen. Dass die Psychokardiologie inzwischen Bestandteil der Facharztweiterbildung zum Kardiologen ist, sensibilisiert auch junge Assistenzärzte für das Thema. Zwar gibt es noch keine flächendeckende psychokardiologische Versorgung in Deutschland, bei komplexen chirurgischen Eingriffen, beispielsweise einer Herztransplantation, gehören psychologische Gespräche vor der OP jedoch zum Klinikalltag. Das gilt nicht für den klassischen Herzinfarkt.

„Im Vergleich zu Disziplinen wie der Onkologie verbringen Herzpatienten weniger Zeit im Krankenhaus. Nach einem Infarkt beträgt die Liegedauer oft nur zwei bis vier Tage“, so Pfeiffer. Die psychischen Probleme manifestieren sich jedoch meist erst später – wenn Patienten nicht mehr auf den Knopf drücken können, um einen Arzt zu rufen, und auf sich gestellt sind. Teilweise einige Monate nach einer kardiologischen Reha. „Hausärzte und Kardiologen sollten wissen, dass es spezielle Therapieplätze für psychokardiologische Patienten gibt, und aufmerksam sein, damit die Betroffenen nicht mit ihren Problemen alleingelassen werden“, sagt Pfeiffer.

  • 15 - 20 % der Patienten mit koronarer Herzerkrankung entwickeln eine Depression

Quelle: Ladwig K H et al.: Die innere Barriere

Nicht mehr Radfahren kann ein Warnzeichen sein

„Häufig bleiben die psychischen Symptome der Betroffenen lange verborgen, weil sie ihre Ängste selbst nicht ernst nehmen und dem behandelnden Arzt gegenüber verschweigen“, berichtet Christa Bongarth, Chefärztin der Kardiologie und Psychokardiologie in der Rehaklinik Höhenried.

Früh erkannt, wäre es oft vermeidbar, dass sich die Angst verselbstständigt und daraus eine chronische psychische Erkrankung entsteht. Deshalb führen Bongarth und ihre Kollegen mit allen Patienten in der kardiologischen Reha ein psychologisches Screening durch. „Kreuzt jemand an, dass er nicht mehr so freudvoll wie früher ist oder mit Ängsten zu kämpfen hat, gehen wir dem nach“, so Bongarth. Natürlich sind Menschen, die gerade einen Herzinfarkt hinter sich haben, nicht so glücklich und zufrieden wie vor der Erkrankung.

Nicht selten gehen die psychischen Probleme aber über normale Belastungsreaktionen hinaus. Dann bekommen die Betroffenen bereits in der Reha psychologische Unterstützung. An spezifischen Warnsignalen können Patienten selbst erkennen, wenn die psychischen Belastungen tiefgreifender sind. „Verändern sich die Empfindungen grundsätzlich, ist das ein Alarmzeichen“, sagt Psychokardiologin Pfeiffer. Wer dauerhaft gedrückter Stimmung ist, schreckhafter oder ängstlicher reagiert als zuvor oder Dinge vermeidet, die früher Spaß gemacht hatten, sollte darüber mit dem behandelnden Hausarzt oder Kardiologen sprechen. Auch Schlafstörungen oder nächtliche Grübeleien sind Warnzeichen. Manche trauen sich nicht mehr, Fahrrad zu fahren oder zu verreisen, Einzelne wagen sich nicht einmal mehr aus dem Haus. Andere scheitern in der Arbeit, weil sie Konzentrationsschwierigkeiten haben. Ein fortgeschrittenes Symptom ist ein kompletter sozialer Rückzug.

Verändern sich bei Herzpatienten die Empfindungen grundsätzlich, ist das ein Alarmzeichen.

Dr. Corinna Pfeiffer

Leiterin der Abteilung für Psychokardiologie in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der LVR-Universitätsklinik Essen

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„Ich bin nicht schuld“

In der Psychokardiologie erarbeiten die Patienten gemeinsam mit Therapeuten Strategien für ihr Leben mit der Krankheit. „Sie müssen akzeptieren, dass sie nicht alles kontrollieren können“, sagt Pfeiffer. Die Kardiologin arbeitet mit ihren Patienten an einer Zukunftsaussicht und daran, die Zuversicht für einen möglichst guten Verlauf zurückzugewinnen. Das Ziel ist, die Lebensqualität trotz Unsicherheiten zu erhalten.

„Der Wendepunkt in meinem Leben war die Erkenntnis: Ich bin nicht schuld, dass ich weniger schaffe als andere“, erzählt die herzkranke Sabrina Lorenz. Es belastete sie, keinen 40-Stunden-Job bewältigen zu können. Jahrelang fühlte sie sich nicht gut genug, versuchte erfolglos, sich anzupassen. „Bestimmte Dinge kann ich nicht erreichen. Ich habe andere Grenzen. Die Krankheit ist der Vollzeitjob, für den ich nicht bezahlt werde“, sagt Lorenz, die andere chronisch Erkrankte darin schult, resilienter zu werden, und Mediziner auf die Wichtigkeit einer flächendeckenden psychokardiologischen Versorgung aufmerksam macht. Was ihr hilft, ist der Austausch mit Menschen, die ihr Schicksal in ähnlicher Form teilen – das Gefühl, nicht allein zu sein. Inzwischen kann sie die Krankheit als gegeben annehmen. „Heute weiß ich, ich bin gut so, wie ich bin.“

Meine Krank­heit ist mein Vollzeitjob, für den ich nicht bezahlt werde.

Sabrina Lorenz

Herzpatientin und Beraterin für Patientenkommunikation, Inklusion und Antidiskriminierung

Während ihrer Aufenthalte in der psychokardiologischen Reha sprach Lorenz mit Therapeuten über ihre berufliche Findungsphase oder zurückliegende Operationen. „Es fühlte sich jedes Mal an wie nach Hause kommen, weil ich dort eben nicht der ‚Herzfehler auf Zimmer 25‘ war, sondern Sabrina Lorenz.“ Einzel- und Gruppengespäche sind wichtiger Teil der psychokardiologischen Behandlung in Klinik oder Rehaklinik. „In den Sitzungen erarbeiten wir Themen wie Stress, Zeitmanagement, Angst oder Achtsamkeit mit den Patienten“, erläutert Reha-Ärztin Bongarth. Kardiologen und Psychologen sprechen mit den Therapieteilnehmenden auch im Detail über ihre Erkrankung und erläutern Zusammenhänge mit der seelischen Gesundheit.

„Die sogenannte Psychoedukation ist der erste Schritt der Behandlung“, erklärt Michael Stimpel, Psychokardiologe und Psychotherapeut mit eigener Praxis in Düsseldorf. Er hat sich darauf spezialisiert, Patienten nach Herzerkrankungen bei der Bewältigung zu helfen: „Wer über seine Krankheit genau Bescheid weiß, wird wieder handlungsfähig.“ Manche Patienten können sich nicht so gut mit Worten ausdrücken, aber künstlerisch. Viele psychokardiologische Abteilungen bieten deshalb auch Kunsttherapie an, andere Musiktherapie. Zweiter wichtiger Baustein der Behandlung sind Sport- und Bewegungsangebote. „So gewinnen Patienten Vertrauen und Sicherheit in ihren Körper zurück“, berichtet Pfeiffer aus der psychosomatischen Abteilung in Essen. Die Therapien enthalten vitalisierende Übungen wie Ausdauer-, Koordinations- oder Krafttraining, aber auch Entspannungsverfahren und zahlen zusätzlich auf die körperliche Rehabilitation ein. „Wir arbeiten mit den Patienten ressourcenorientiert. Das heißt, wir betrachten nicht die Defizite, sondern das, was sie schaffen können, um ihnen Bewältigungsstrategien an die Hand zu geben“, erklärt Reha-Ärztin Bongarth.

Hilfe finden

So beantragen Sie eine psychokardiologische Rehabilitation:

  • In den meisten Fällen wird Ihr Hausarzt oder Kardiologe die Empfehlung für eine Rehamaßnahme aussprechen. Natürlich können Sie auch selbst aktiv werden und Ihren behandelnden Arzt nach einer solchen Unterstützung fragen. Er kann eine entsprechende Verordnung ausstellen und die Reha beim jeweiligen Kostenträger beantragen.
  • „Entscheidend ist, dass neben der kardiologischen Diagnose eine psychiatrische oder psychosomatische Diagnose angegeben wird. Nur dann kann der Antrag durch den medizinischen Dienst bewilligt werden“, betont Christa Bongarth, Leiterin der Psychokardiologie an der Rehaklinik in Höhenried. Eine Rehabilitation ist mit Kosten verbunden. Setzen Sie sich vorab mit Ihrer Krankenkasse in Verbindung, um Ihre Ansprüche zu klären und von möglichen Zuzahlungen nicht überrascht zu werden.
  • Die Bewilligung eines Reha-Antrags nimmt einige Zeit in Anspruch. Beantragen Sie die Maßnahme deshalb rechtzeitig. Da es in Deutschland noch relativ wenige psychokardiologische Reha-Einrichtungen gibt, kann es zu erheblichen Wartezeiten von bis zu einem halben Jahr kommen. 

Sie können sich ebenso an eine Akutklinik mit einer Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie wenden. Die Kosten werden in der Regel von der Krankenkasse übernommen. Auch hierfür benötigen Sie eine Verordnung mit entsprechender Diagnose.

Vertrauen erarbeiten

Die Therapie in der psychosomatischen Klinik dauert sechs bis acht Wochen, eine Rehabilitation in der Regel drei bis fünf. „In dieser Zeit können wir nicht alles verändern, aber den Patienten einen Weg aufzeigen, mit ihrer Erkrankung umzugehen“, sagt Bongarth. Sie ermutigt, nach der Reha den Austausch mit anderen zu suchen, etwa in Herzsportgruppen. Die gemeinsame Aktivität wird von einem Trainer angeleitet, zusätzlich ist immer ein Arzt dabei. „Das geschützte Umfeld ist gerade für psychokardiologische Patienten motivierend, Bewegung weiterzuführen“, so die Reha-Ärztin.

© Sabrina Lorenz / Fragments of Living

Kreative Entspannung - Herzpatientin Sabrina Lorenz zeichnet gerne, um zur Ruhe zu kommen

Sport ist eine Kraftquelle. Sabrina Lorenz schöpft Energie beim Malen und Kaffeetrinken mit „ihren Menschen“. „Ich habe ein großartiges Netzwerk von Freunden, denen ich mich anvertrauen kann.“

Mehr erfahren

Eine Themenwoche zur Psychokardiologie fand im März 2023 auf dem Instagram-Kanal von FOCUS-Gesundheit statt: www.instagram.com/focus_gesundheit. Alle Beiträge finden Sie dauerhaft in unseren Story-Highlights.

FOCUS-Gesundheit 01/24 – Einfach besser leben 2024

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Dieser Artikel enthält allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder –behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen. Den passenden Arzt finden Sie über unser Ärzteverzeichnis.

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