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Online-Sucht: Symptome, Therapien und Erfolgsquote der Reha

Eine Online-Sucht-Reha baut die Brücke zur realen Welt wieder auf. Doch auch der Alltag wird mehr und mehr vom Internet dominiert. Vier Männer und ihr Kampf um die Rückkehr in ein suchtfreies Leben.

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© Adobe Stock

Eigentlich müsste ihnen sterbenslang­weilig sein. Es ist Nachmittag, das Ticken der Uhr übertönt die Stille in der Gemeinschaftsküche der saar­ländischen Median Klinik Münchwies. Über einem Schachbrett brüten vier junge Männer, neben sich ein Spielzeitprotokoll und ein Süßig­keiteneimer mit sauren Zungen, bald leer. Hinter ihnen ein Regal voll analoger Gesellschaftsspiele: Uno, Mikado, Activity. Bis vor Kurzem haben ihre Synapsen Höchstleistung vollbracht, adrenalin­gesteuert Armeen besiegt und Welten gerettet. Nun sitzen die Gamer da wie gedrosselte ICEs, zum Schritttempo verdammt. Es ist die Entdeckung der Langsamkeit, doch mitnichten Stillstand: Die vier beflügeln, kontrollieren und verstehen einander. Alle haben freiwillig einen Pakt unterschrieben. Keine Video­- und Computerspiele, keine Online-Aktivitäten außer Kontaktpflege; Besuch im Internetcafé nur mit schriftlicher Genehmigung – für rund Monate.

So lange leben sie zusammen mit acht weiteren Patienten in einer Wohngemeinschaft für Online­-Süchtige. In dieser Zeit sollen sie abstinent werden von Versuchungen wie Rollenspielen, Ego­-Shootern, Streamingplattformen, Online­-Pornos und anderen Internetanwendungen. Eine schwierige Mission im Zeitalter omnipräsenter Digitalisierung.

Online-Spielsucht: Definition und Statistik

Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Auf­klärung hat sich die Zahl computerspielsüchtiger Jugendlicher in Deutschland seit 2011 mehr als verdoppelt. 4,1 Prozent aller Zehn-­ bis 17­-Jährigen seien gamingsüchtig, ermittelte die DAK­-Gesund­heit. Spezialambulanzen registrieren auch bei Älte­ren steigende Zahlen: „Seit 2021 verzeichnen wir einen Zuwachs von 25 Prozent bei den Behandlun­gen von Erwachsenen“, erläutert Psychologe Klaus Wölfling, Leiter der Ambulanz für Spielsucht an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsme­dizin Mainz.

Als onlineabhängig gilt, wer nicht nur übermäßig viel Zeit am Bildschirm verbringt, son­dern dadurch anderen wichtigen Lebensbereichen massiv schadet: sozialen Kontakten, der Arbeit, Bewegung, Ernährung, Hygiene. Den Schritt in die rund 15 Reha­kliniken, die diese Erkrankung behandeln, schaffen nur wenige Süchtige, dabei gilt der Aufenthalt in dem internetfreien Kosmos als effektivster Weg.

Wann Online-Spielen krankhaft ist: Symptome, die auf eine Online-Spielsucht hindeuten

Suchen Sie Hilfe, wenn mehr als fünf dieser Symptome innerhalb von zwölf Monaten auftreten:

  • gedankliche Eingenommenheit
  • psychische Entzugs-symptome wie anhaltende Unruhe
  • erfolglose Abstinenzversuche
  • Toleranzentwicklung
  • Verlust des Interesses an früheren Aktivitäten
  • exzessive Nutzung von Online-Computerspielen trotz Problemen
  • Lügen über das wirkliche Ausmaß des Spielens
  • Versuche, Emotionen durch Spielen zu regulieren
  • Gefährdung wichtiger Beziehungen, der Arbeits- oder Ausbildungsstelle aufgrund des Spielverhaltens

Das Telefon klingelt, Anruf von der Aufnahme­station. Endlich was los. „Wer holt den Neuen vom Fahrstuhl ab?“, fragt Therapeut und Oberarzt Hol­ger Feindel. Sofort springen zwei der Männer auf. Gemeinschaft ist wichtig. Wer hier ankommt, wird brüderlich aufgenommen. Für viele eine lange ver­misste Erfahrung. „Im Spiel hatte ich eine Führungs­position“, erzählt Tim (Name von der Redaktion geändert), süchtig nach den Online­-Rollenspielen World of Warcraft und League of Legends. „Ich war Gildenrat, der Anführer einer 20­-Mann­-Gruppe. Im echten Leben hatte ich fast alle Freunde verloren.“ In der virtuellen Welt habe er sofort Anerkennung und Gleichgesinnte gefun­den. Der 30­-Jährige ist bereits zum zweiten Mal in Münchwies. Rund 16 Stunden am Tag saß er zuletzt vorm Rechner, ließ alles schleifen: Arbeit, Körper­pflege, Kontakte. „Nach der ersten Reha hatte ich hehre Ziele: einen neuen Job suchen, abnehmen, kontrolliert spielen.“ Doch die Pandemie legte die Umschulung auf Eis. „Ich stand wieder vor einem Riesenberg von Problemen“, sagt Tim. „Also muss­te etwas her, um den wegzudrücken.“

Für fast alle in der Wohngemeinschaft ist die Flucht auf Knopfdruck ein Weg, um Alltagssorgen oder Traumata zu vergessen. „Wut, Trauer, schmerz­hafte Kindheitserlebnisse – all das konnte ich end­lich betäuben“, sagt York, 31 (Name von der Redaktion geändert). Der Student im 14. Semester wurde zum Binge­-Watcher, bis zu 50 Stunden pro Woche schaute er YouTube, Serien, Streams. „In den Semesterferien habe ich mein Zimmer anderthalb Monate fast nicht verlas­sen“, erzählt er. „Schon nach zwei Tagen ohne Bild­schirm wurde ich total nervös.“ Seine Ehe litt, sein erstes Studium brach er ab.

Auch Jürgen, 33, und Sven, 32 (Name von der Redaktion geändert), verlagerten ihr Leben immer mehr ins Netz: Jürgen verlor sich in Videospielen, Sven flüchtete in YouTube, Online­-Pornos, Twitter und Videos von Profizockern. „Papa sitzt wieder am Kästle“, sagten dann seine drei Kinder. In Münch­wies lernte er, wie wichtig es ist, sich nicht abzu­kapseln: „Wenn man über seine Probleme redet, ist ein bisschen Suchtdruck gleich mal weg.“

FOCUS-GESUNDHEIT 06/23

Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in der Ausgabe Rehakliniken 2024. Weitere Themen: Breites Behandlungsspektrum in der Post-Covid-Reha. Reha-Modelle für junge Krebs-Patienten. U.v.m.

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Online-Sucht: Therapiemöglichkeiten

Emotionale Arbeit ist der therapeutische Schlüssel in der Online­-Sucht­-Reha. Im Mittelpunkt steht kognitive Verhaltenstherapie. „Es ist wichtig, per­sönliche Auslöser und Gründe für die Sucht zu erkennen, etwa Depressionen oder Persönlichkeits­störungen“, sagt Holger Feindel, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in der Median Klinik Münchwies. Ohne diese Aufräum­arbeit und Stärkung des Selbstwertgefühls würden Patienten leicht in alte Muster zurückfallen.

Das Hauptziel aber sei, die Betroffenen ins reale Leben zurückzubringen, mit einer geordneten Tagesstruktur und neuem Anker: „Sie legen sich ein Portfolio an mit Dingen, die ihnen Spaß machen, nichts mit dem PC zu tun haben und zeitnah umsetzbar sind“, erklärt Feindel. Für den einen ist das die Mitgliedschaft im Tischtennisverein, für den anderen sind es Freundschaften oder Streifzüge durch die Natur. „Manche fühlen sich wie neu geboren, weil sie wieder wissen, wie schön es ist, durch den Wald zu spazieren“, sagt Monika Vogelgesang, Chefärztin in Münchwies. Gelinge es, die Sensoren für die Tiefe des realen Lebens zu schärfen, werde dieses auch nicht langweilig. Manche Patienten entwickelten regelrecht Neugier: „Einige probierten ungefragt aus, wie es ist, einen Baum zu fällen“, erzählt die Psychi­aterin. „Wäre die Aktion nicht so gefährlich gewesen, hätte man sie als Therapieerfolg werten können. Aber natürlich müssen die Patienten auch lernen, die Gefahren des realen Lebens abzuschätzen.“

Schritt für Schritt gilt es, Herausforderungen zu meistern, etwa durch das Amt des Wohngruppen­sprechers oder die Begegnung mit anderen Menschen. „Gaming­-Süchtige sind meist sehr zurück­haltend“, erklärt Feindel. Sich wieder mit anderen an einen Tisch zu setzen sei für viele eine Leistung.

Auch Tiertherapie hat sich als hilfreich erwiesen. In der Psychosomatischen Klinik Kloster Dießen in Bayern hat das bockige echte Leben Fell: Die Reha­bilitanden müssen mit Eseln zurechtkommen. Bewegungstherapie, Achtsamkeitstraining und Körperpsychologie kommen ebenfalls zum Ein­satz. „Die meisten Gamer haben eine schnelle Reaktionsfähigkeit entwickelt“, sagt Monika Vogel­gesang, „ihr Körper besteht aber gefühlt nur aus Augen und Fingern.“ Ein Drittel der Patienten sei adipös, viele hätten Gleichgewichtsstörungen. In der Reha lernen sie, ihren Körper als etwas Posi­tives wahrzunehmen.

Die Online­-Nutzung wird mit einem Ampel­system geregelt, das Therapeut und Patient indi­viduell erstellen: rot für das suchtauslösende Spiel oder Portal. Dieses muss lebenslang gemieden werden. Gelb für Funktionen, die bisher nicht zur Sucht führten, aber es noch tun könnten, wenn das verbotene Mittel wegfällt – etwa Streamingdiens­te. Und grün für unbedenkliche Anwendungen wie E-­Mails oder E­-Banking. „Die Internetnutzung komplett zu verbieten wäre unrealistisch“, so Feindel. „Man kann seinen Alltag ohne Alkohol meistern. Aber wir leben in einem Zeitalter, in dem Internetabstinenz nicht funktioniert.“

Online-Sucht-Reha

  • Für wen? Menschen mit krankhafter Abhängigkeit von PC- und Internetanwendungen, Handy, Online-Käufen, Online-Spielen, Online-Sex oder sozialen Netzwerken. Voraussetzung ist der Wille, die eigene Situation zu ändern.
  • Welche Therapien? Im Mittelpunkt steht in der Regel eine kognitive Verhaltenstherapie, um eingeübte Verhaltensmuster und Auslöser aufzudecken, zu verstehen und durch konstruktive Strategien zu ersetzen. Schwerpunktwohngruppen erleichtern die Therapie.

Online-Sucht-Reha: Erfolgsquote

Der Teilverzicht klappt allerdings auch nicht immer. Umfragen bei ehemaligen Münchwies­-Patienten zeigten, dass es zwei Drittel schaffen, auf Dauer das suchtauslösende Spiel zu meiden; ein Drittel schafft es nicht. Ein Teil der Betroffenen versucht, sich mit Apps wie Stay Focused oder One Sec zu schützen, die ablenkende Apps oder Web­seiten blockieren. „Die Sicherheit, keinen Rückfall zu erleiden, gibt es nie“, sagt Sven, „aber man kann sich viele Hindernisse aufstellen.“

Die Erfolgsquote ist ähnlich wie bei stoffgebundenen Sucht­-Rehas, dabei ist die Therapie der On­line­-Abhängigkeit relativ jung. Ende der Neunziger behandelte man in Münchwies erstmals Betroffe­ne. Erst 2019 stufte die WHO Computerspielsucht, die häufigste Form der Internetsucht, als behand­lungsbedürftige Erkrankung ein.

Inoffiziell gibt es längst weitere Formen wie Abhängigkeit von Online­-Käufen oder Social Media. „Laut Studien flüchten Mädchen eher in soziale Netzwerke wie Instagram, Jungs in Computerspiele“, so Feindel. Neun von zehn seiner gamingsüchtigen Patienten seien männlich. Bei Mädchen schlage sich krank­hafter Internetkonsum weniger offensichtlich nieder, so Suchtmedizinerin Vogelgesang, zum Beispiel in Form von Depressionen oder Angst­- und Ess­störungen. Mit Sorge beobachtet sie gefährliche Trends: „Einige Binge-­Watcher zeigen ein Demo­tivationssyndrom, das man bisher insbesondere nach Cannabis­-Konsum kennt. Sie haben keine Identität mehr.“

Andere User litten an sogenann­ter digitaler Demenz: Merk-­ und Konzentrations­fähigkeit sind stark reduziert. „Mit künstlicher Intelligenz, 3D­-Brillen und weiteren Neuerungen bringen wir Störungen auf den Weg, die jetzt noch gar keinen Namen haben.“ Umso nötiger sei es, digitale Zeiten radikal zu limitieren, Schüler über Risiken aufzuklären und das Bewusstsein zu schärfen, wie wichtig ein kontrollierter Umgang ist. „Wir sind in das Internetzeitalter getaumelt, ohne darauf vorbereitet zu sein. Jetzt müssen wir lernen, wie wir damit klarkommen.“

Zum Weiterlesen und Testen

  • Ratgeber: Petra Schuhler, Monika Vogelgesang: Wege aus dem krankhaften Gebrauch von Computer, Internet und sozialen Medien. Beltz, 2022
  • Selbsttest der Online-Sucht-Hilfe des LWL-Universitätsklinikums Bochum unter ompris.hevido.net
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