Wissenschaftler sind der Frage, was Diabetes-Patienten unterscheidet und warum eine Behandlung nicht für alle passt, nun einen großen Schritt näher gekommen. Schwedische Forscher bestimmten im vergangenen Jahr fünf verschiedene Typen von Diabetes bei Erwachsenen – und stießen in der Fachwelt auf große Resonanz.
Experten überprüften die Ergebnisse sofort bei Patienten aus Deutschland, Großbritannien, den USA, China und weiteren Ländern und kamen dabei stets zum selben Ergebnis: Diabetes hat bei Erwachsenen mindestens fünf verschiedene Gesichter. „Das ist der erste Schritt hin zu einer Präzisionsmedizin, ähnlich wie wir sie bereits aus der Behandlung von Krebs kennen“, sagt Michael Roden, Wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Diabetes-Zentrums. Mit einem echten therapeutischen Fortschritt rechnet auch die Deutsche Diabetes Gesellschaft: „Es ist zu erwarten, dass sich Empfehlungen für die Therapie und für Kontrolluntersuchungen in Zukunft noch stärker anhand der individuellen Risiken eines Patienten unterscheiden werden“, so Pressesprecher Baptist Gallwitz.
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Merkmale für die neuen Diabetes-Arten
Zu den Entdeckern der neuen Untergruppen gehört Leif Groop, Diabetologie-Professor im schwedischen Lund. Seit den 70er-Jahren behandelt der gebürtige Finne Diabetes-Patienten. Damals, erinnert er sich, dachten viele Ärzte, die Krankheit sei „etwas, was deine alte Tante am Ende ihres Lebens bekommt. Nichts, worum man viel Gewese machen muss.“ Doch schon seinerzeit fiel ihm auf, dass es den stereotypen Diabetes-Patienten nicht gibt. 1982 schrieb er seine Doktorarbeit über die Vielfalt beim Typ-2-Diabetes.
Groop gelangte schnell zu der Ansicht, dass eine Einteilung in Typ-1 und Typ-2 zu grob sei, um die Krankheit gut zu behandeln. Die seit Jahrzehnten geltende Untergliederung, auf die bis heute Therapie-Abläufe aufbauen, hält er für eine überkommene Lehre. „Nur sehr wenige Dogmen überleben, und es ist die Aufgabe der Wissenschaft, sie zu brechen“, so Groop. Die Chance bot sich ihm, nachdem er 2008 Leiter einer Studie wurde, bei der alle neu diagnostizierten Diabetiker in der südschwedischen Provinz Skane detailliert erfasst wurden – ein weltweit nahezu einmaliger Datenschatz für Forscher.
Nach zehn Jahren Datensammeln konnte Groop schließlich den Beweis antreten, dass Diabetes eine vielfältige Krankheit ist. Gemeinsam mit seinem Team analysierte er die Verläufe von fast 9.000 Patienten. Er nutzte dabei sechs Merkmale, die für die Studie bei allen Patienten erhoben wurden: das Alter, in dem der Diabetes bei ihnen diagnostiziert wurde, den Body-Mass-Index (BMI) und den Langzeit-Blutzuckerwert HbA1c. Außerdem testeten die Wissenschaftler, ob Antikörper gegen das Enzym Glutamatdecarboxylase (GAD) vorliegen – ein wichtiges Zeichen für einen unentdeckten Typ-1-Diabetes. Schließlich bestimmten Ärzte im Nüchternzustand den Zucker- und den Insulingehalt im Blut. Daraus schätzten die Forscher mithilfe einer Modellrechnung die Funktion der Betazellen der Bauchspeicheldrüse ab sowie die Insulinresistenz, also die mangelnde Fähigkeit des Gewebes, Glukose mithilfe von Insulin aufzunehmen.Auf diesen Merkmalen basiert die neue Einstufung
Alter:
Relevant für die Einstufung ist das Alter, in dem der Diabetes bei einem Patienten erstmals diagnostiziert wurde.
Metabolische Kontrolle:
Hier prüfen die Ärzte, wie gut die Stoffwechseleinstellung gelingt. Wichtigstes Kriterium ist der Langzeit-Blutzuckerwert HbA1c, der bei einem gut eingestellten Diabetes zwischen 6,5 und 7 Prozent liegen sollte.
Insulinproduktion:
Aus dem Zucker- und Insulingehalt, der sich im nüchternen Zustand im Blut findet, können Ärzte ablesen, ob die Bauchspeicheldrüse noch ausreichend Insulin produziert und wie gut die Körperzellen das Hormon aufnehmen.
Autoimmun-Antikörper:
Bestimmte Antikörper im Blut deuten auf einen Typ-1-Diabetes hin, bei dem das eigene Immunsystem die insulinproduzierenden Betazellen der Bauchspeicheldrüse zerstört. Patienten müssen meist innerhalb kurzer Zeit Insulin spritzen.
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Fünf neue Diabetes-Gruppen
Als die Forscher ihre Ergebnisse Anfang des vergangenen Jahres veröffentlichten, trafen sie bei ihren Kollegen einen Nerv. „Die Aufmerksamkeit war unglaublich“, erinnert sich Groop. Der Fachartikel gehört zu den am meisten zitierten Arbeiten der Diabetes-Forschung des vergangenen Jahres. „Was wir als Ärzte täglich beobachten, wird damit in Zahlen und Worte gefasst“, sagt Michael Roden, der auch Direktor der Klinik für Diabetologie und Endokrinologie der Uni-Klinik Düsseldorf ist.
Groop und seine Kollegen konnten unter ihren Patienten fünf Gruppen unterscheiden: drei schwere und zwei milde Verlaufsformen. Außerdem differenzierten sie, ob eine mangelhafte Insulinproduktion oder eine Insulinresistenz den Krankheitsverlauf bestimmen. „Patienten können daraus lernen, dass es nicht eine Therapie gibt, die für alle passt“, erläutert Groop. „Wenn man weiß, zu welcher Subgruppe man gehört, hilft das, die beste Behandlung zu finden, und liefert Hinweise auf mögliche Komplikationen.“
Schwerer insulinmangel-betonter Diabetes: schneller zur wirksamen Therapie
Unter den untersuchten Patienten fanden Groop und seine Kollegen eine Gruppe, die besonders häufig unzureichend behandelt wird. Diese sind jünger als der durchschnittliche Typ-2-Diabetiker, haben meist ein normales oder nur leichtes Übergewicht, aber bereits hohe HbA1c-Werte, die auf eine schlechte Blutzuckerkontrolle hinweisen. Ihre Bauchspeicheldrüse produziert nur noch wenig Insulin, weshalb die Forscher diese Verlaufsform „schwerer insulinmangelbetonter Diabetes“ nennen.
Menschen in dieser Gruppe haben ein erhöhtes Risiko für Schäden an der Netzhaut. Außerdem traten bei ihnen vermehrt Frühzeichen von Nervenschäden auf. „Diese Patienten wurden am häufigsten mit Metformin behandelt“, berichtet Groop. „Aber Ärzte müssen erkennen, dass Metformin für diese Menschen nicht ausreicht.“ Sie benötigen eher Medikamente, die die Insulinproduktion anregen, wie sogenannte GLP-1-Analoga oder DDP-4-Hemmer, und sie müssen häufig innerhalb weniger Monate Insulin spritzen.• Betroffene: neun bis 20 Prozent
• typisches Alter bei Erstdiagnose: 45 bis 65 Jahre
• Gewicht: Normalgewicht bis leichtes Übergewicht
• metabolische Kontrolle: schlecht
• körpereigene Insulinproduktion: gering
• Autoimmun-Antikörper: nein
Bei den Patienten besteht ein erhöhtes Risiko für Netzhautschäden und die Stoffwechselentgleisung Ketoazidose. Bei Bedarf sollte Insulin verordnet werden; ein regelmäßiger Augencheck scheint sinnvoll.
Schwerer Autoimmun-Diabetes: häufig übersehene späte Typ-1er
Daneben erkannten die Forscher eine Verlaufsform wieder, die bereits seit einem Vierteljahrhundert in Fachkreisen als LADA bekannt ist: Typ-1-Diabetes, der erst im Erwachsenenalter ausbricht. Er trifft ebenfalls meist jüngere Erwachsene, die kaum Übergewicht, aber sehr hohe Zuckerwerte aufweisen. Zusätzlich haben diese Patienten GAD-Antikörper in ihrem Blut. Diese geben Ärzten einen Hinweis darauf, dass das Immunsystem die Betazellen angegriffen hat. Entsprechend niedrig ist ihre Insulinproduktion. „Diese Patienten werden heute noch häufig fehldiagnostiziert“, sagt Gallwitz, Stellvertretender Ärztlicher Direktor der Klinik für Diabetologie, Endokrinologie und Nephrologie am Universitätsklinikum Tübingen. Einer aktuellen Studie aus Großbritannien zufolge trifft dies auf einen von fünf ursprünglich als Typ-2-Diabetiker Diagnostizierten im Alter über 30 Jahre zu. Charakteristisch ist, dass die Patienten innerhalb kurzer Zeit insulinpflichtig werden.
„Womöglich können wir Patienten der ersten beiden Gruppen mit eingeschränkter Insulinproduktion zukünftig sagen, dass sie von einer Gewichtsabnahme nicht besonders profitieren“, vermutet Diabetologe Roden. Bislang raten Ärzte allen Betroffenen, die auch nur ein paar Kilogramm mehr als empfohlen auf den Hüften haben, zum Abnehmen. In Untersuchungen, die die positive Wirkung des Abnehmens belegen, tritt aber immer wieder eine Gruppe von Diabetikern auf, bei denen sich der Krankheitsverlauf auch mit strikter Diät nicht beeinflussen lässt. „Mich würde es nicht wundern, wenn weitere Studien zeigen, dass dies genau jene Patienten mit einem Insulinmangel sind, bei denen wir durch Lebensstilveränderungen wenig erreichen können“, konstatiert Roden.
- Betroffene: fünf bis 15 Prozent
- typisches Alter bei Erstdiagnose: 30 bis 70 Jahre
- Gewicht: Normalgewicht oder leichtes Übergewicht
- metabolische Kontrolle: schlecht
- körpereigene Insulinproduktion: gering
- Autoimmun-Antikörper: ja
Die Patienten benötigen innerhalb kurzer Zeit Insulin und haben ein erhöhtes Risiko für Ketoazidose – eine schwere Entgleisung des Stoffwechsels, die ohne Behandlung lebensgefährlich verläuft.
Schwerer insulinresistenz-betonter Diabetes: Achtung, Risiko!
Die hohen Leberfettwerte der Patienten entdeckten Roden und seine Kolleginnen vor Kurzem, als sie die schwedische Untersuchung mit den Daten aus der Deutschen Diabetes-Studie überprüften. Dabei konnten sie bestätigen, dass auch die Gefäße unter dem hohen Zuckergehalt im Blut leiden. Die Zahl der Nierenschäden ist bei den Betroffenen ebenso erhöht wie das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Obwohl die Insulinresistenz im Mittelpunkt der Erkrankung steht, erhielt nur knapp jeder zweite schwedische Patient in dieser Gruppe Metformin, ein Mittel, das die Zellen aufnahmefähiger für Insulin macht. Zusätzlich würden den Patienten nierenschonende Medikamente und eine strenge Blutdruck-Einstellung helfen.
• Betroffene: elf bis 17 Prozent
• typisches Alter bei Erstdiagnose: 55 bis 75 Jahre
• Gewicht: starkes Übergewicht
• metabolische Kontrolle: moderat
• körpereigene Insulinproduktion: hoch
• Autoimmun-Antikörper: nein
Diese Patientengruppe hat ein hohes Risiko für Nierenschäden oder eine Fettleber. Mögliche Therapieansätze könnten sein: Senkung der Insulinresistenz z. B. mit Metformin, Nierenschutz durch SGLT2-Hemmer, strenge Blutdrucksenkung.
Moderater Übergewichts- sowie Altersdiabetes: Ist weniger mehr?
Der moderate Verlauf lässt Ärzten und Patienten Zeit, die Blutzuckerwerte zunächst durch Lebensstilmaßnahmen sowie eine passende Medikation zu normalisieren. „Ich kann mir vorstellen, dass insbesondere die milden Formen weiterhin gut beim Hausarzt betreut werden können“, sagt Diabetologe Gallwitz. „Vielleicht müssen wir die Patienten auch gar nicht mehr so engmaschig überwachen, während wir die schweren Verlaufsformen intensiver behandeln können“, so Groop.
- Betroffene: ca. 45 Prozent
- typisches Alter bei Erstdiagnose: 60 bis 75 Jahre
- Gewicht: leichtes Übergewicht
• metabolische Kontrolle: moderat
• körpereigene Insulinproduktion: moderat
• Autoimmun-Antikörper: nein
Bei dieser Patientengruppe lassen sich die Blutzuckerwerte mit Lebensstiländerungen positiv beeinflussen und die Gefahr für Folgeerkrankungen senken.
Die fünf neuen Untergruppen lassen sich anhand weniger Messwerte voneinander trennen. Dahinter stecken aber wohl ganz unterschiedliche Krankheitsmuster. Um dies zu belegen, untersuchten Groop und seine Kollegen, welche Krankheitsgene bei den jeweiligen Patientengruppen aktiv sind. So war etwa eine Genvariante, die üblicherweise bei einer Fettleber-Erkrankung zu finden ist, bei den schwer insulinresistenten Patienten aktiv, nicht aber bei jenen mit mildem Übergewichtsdiabetes, obwohl beide Gruppen ähnlich stark zu Fettleibigkeit neigen. „Das unterstützt unsere These, dass die Krankheit in den Gruppen auf unterschiedliche Weise entsteht“, so Groop.
Bis die neue Klassifikation in der Praxis ankommt, bleibt noch viel zu tun. Weitere Studien müssen zeigen, welche Medikamente und welche Kontrolluntersuchungen bei welcher Gruppe besonders wirksam sind. Auch werden einige relevante Messwerte wie die GAD-Antikörper und der Nüchtern-Insulinwert in Deutschland nicht regelmäßig erhoben, weil sie bislang nur in ganz bestimmten Fällen von der Krankenkasse bezahlt werden. „Das Einteilungsverfahren ist deshalb noch nicht praxistauglich“, urteilt Diabetologe Gallwitz. Sobald aber klar sei, welche Strategie welcher Gruppe von Patienten am besten helfe, sei die Messung sinnvoll. Aktuell versuchen Wissenschaftler, bereits abgeschlossene Untersuchungen neu auszuwerten. Britische Diabetes-Forscher bestimmten vor einigen Wochen nachträglich, zu welcher Untergruppe die Probanden zweier großer Medikamentenstudien gehörten. Dabei entdeckten sie, dass in jeder Gruppe eine andere Therapiestrategie erfolgreicher war.
Auch wenn es noch einige Zeit dauert, bis neue Studienergebnisse vorliegen, will Diabetologe Roden keine Zeit verlieren. „Wir überlegen bereits, diese Klassifikation zusätzlich an unserer Klinik einzuführen“, sagt er. Denn schon heute könne das Wissen um unterschiedliche Verlaufsformen den Ärzten helfen, zielgerichteter auf die individuellen Risiken eines Patienten zu achten.
Dies ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in FOCUS-Diabetes „Gesundes Herz" 04/2019 – als Print-Heft oder als digitale Ausgabe.