Forschung: Wunden narbenfrei verheilen lassen?
Wenn Yuval Rinkevich, Forscher am Helmholtz Zentrum in München, unter dem Mikroskop Hautgewebe untersucht, blickt er in ein Paralleluniversum. Auf der kleinen Trägerplatte mit einem millimeterdünnen Hautschnitt fluoreszieren runde, prall gefüllte Fettzellen in Neonlila. Umhüllt werden sie von einer Wolke aus türkis eingefärbtem Bindegewebe. In leuchtendem Rot durchziehen Blutgefäße das Bild. „Man könnte meinen, ein Künstler hätte sich das so ausgedacht“, sagt der Wissenschaftler.
Seit mehr als zehn Jahren forscht Biologe Rinkevich daran, wie Organe und Gewebe regenerieren. Dazu filmt er Wunden in mikroskopischer Vergrößerung und untersucht, welche Zellen die Haut heilen lassen. Er hat vier verschiedene Arten von Bindegewebszellen identifiziert, die an der Narbenbildung beteiligt sind, und entschlüsselt, wie man diese unterdrückt. Sein Ziel ist es, eine Therapie gegen Lungenfibrose zu finden, einer chronischen Erkrankung, bei der das Atemorgan von innen vernarbt. „Unsere Erkenntnisse lassen sich aber auch auf die Haut übertragen“, sagt er. Schnitte nach einer Knie-Operation oder nach einem Kaiserschnitt könnten mit seiner Strategie heilen, als wäre die Haut nie angetastet worden. Biologe Rinkevich ist dem Traum vieler Mediziner, Wunden narbenfrei verheilen zu lassen, ein Stück näher gekommen: In seinem Projekt „Scarless World“, auf Deutsch „Narbenfreie Welt“, konnte der Forscher mit seinem Team aus 20 Wissenschaftlern zeigen, dass das Gewebe von Mäusen nach einer Bauchoperation narbenfrei regeneriert ist.
Narben behandeln und entfernen
Viele Menschen müssen mit den bleibenden Spuren von Operationen, Unfällen oder Verletzungen leben. „Dabei können wir Hautärzte gute Ergebnisse erzielen“, sagt Gerd Gauglitz, Oberarzt für Dermatologie und Allergologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dermatologen gelingt es, mit Vereisung und der Injektion von Medikamenten wulstige Narben abzuflachen oder mit Lasern tief eingesunkene Akne-Narben wieder zu heben.
„Unsichtbar machen können wir Narben aber nicht.“
(Gerd Gauglitz, Oberarzt für Dermatologie und Allergologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München)
„Die Narbentherapie verlangt Geduld“, sagt der Experte. Bei stark wuchernden Narben erstrecken sich die Behandlungen etwa über zwei Jahre. „Die Ergebnisse sind faszinierend“, sagt Hautarzt Gauglitz. Kleinere OP-Narben von bis zu zehn Zentimetern lassen sich so minimieren, dass auch Mediziner sie nach der Therapie suchen müssen. „Unsichtbar machen“, sagt der Dermatologe, „können wir Narben aber nicht.“
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Heilungsprozess der Haut
Jedes Mal, wenn der Mensch sich verletzt, etwa aus Versehen beim Zwiebelschneiden abrutscht und mit dem Messer in die Haut fährt, werden Millionen von Zellen verletzt. Blutgefäße sind zertrennt, Gewebe ist zerstört. Unmittelbar setzt der Körper einen Heilungsprozess in Gang. Blut schießt in das verletzte Gewebe ein und schwemmt Keime und Fremdkörper aus der frischen Wunde. In nur wenigen Sekunden fangen Blutplättchen an, die Verletzung oberflächlich mit einem Pfropf zu verschließen. Darunter beginnt die eigentliche Aufbauarbeit: Fibroblasten wandern in das verletzte Gewebe ein. Sie spinnen ein Netz aus Kollagenfasern. Ist die Verletzung groß und tief, muss der Körper rasch reagieren. Er spult ein Programm ab, das seine Überlebenschancen steigert. Schnell und unkontrolliert bilden Fibroblasten Ersatzgewebe. Auf Schönheit kommt es dabei nicht an. Die neuen Fasern zerstören Haarfollikel, Talg- und Schweißdrüsen. Die Wunde schließt sich, und neue Haut entsteht, die den Körper wieder vor Eindringlingen schützt.
1. Latenzphase:
Ein kleiner Schnitt in die Haut verletzt Bindegewebe, Gefäße (A) und Nerven. Millionen Zellen sind zerstört. Unmittelbar strömt Blut in die Wunde ein und trägt Keime und Eindringlinge aus dem verletzten Gewebe.
2. Exsudationsphase:
Die Blutgerinnung setzt ein. Blutplättchen heften sich an das verbleibende Gewebe und bilden einen Pfropf. Fibroblasten (B) werden zu den Wundrändern gelockt. Sie spinnen ein Netz aus den Gewebefasern Kollagen (C).
3. Resorptionsphase:
Fresszellen, auch Makrophagen (D) genannt, reinigen die Wunde von innen. Der Blutpropf verhärtet sich zu Schorf. Darunter bildet sich neues Gewebe. Fibroblasten bilden ein enger werdendes Gerüst aus Kollagen.
4. Granulationsphase:
Körniges Granulationsgewebe (E) füllt die Wunde von innen auf und zieht die Wundränder zusammen. Es baut allmählich alle Hautschichten wieder auf. Der Schadensbereich wird kleiner.
5. Reparationsphase:
Die Oberfläche der Haut wird durch neue Epithelzellen (F) geschlossen. Das Ergebnis der Heilung ist eine Narbe, die sich in den folgenden zwei Jahren noch in Form und Farbe ändern kann.
Wie Narben entstehen
An seinem Computer zeigt Biologe Rinkevich die Heilung einer Hautwunde im Zeitraffer. Bindegewebszellen, die Narben bilden, hat er rot eingefärbt, Fibroblasten, die Haut nahezu narbenfrei verheilen lassen, grün. Rasch ziehen die roten Pünktchen auf dem Videofilm die Wundränder zusammen. „Wir nennen sie schlechte Fibroblasten“, sagt der Experte. In manchen Körperregionen, erklärt er, überwiegen gute Bindegewebszellen. Im Gesicht etwa hinterlassen Verletzungen weniger starke Spuren als am Rücken oder im Brustbereich. Auch in den verschiedenen Entwicklungsstadien des Menschen verheilen Wunden unterschiedlich gut. Wird die Haut eines Embryos im Bauch der Mutter verletzt, bildet sie sich wieder vollkommen neu. Ist der Mensch wenige Wochen auf der Welt, verheilen Verletzungen nicht mehr narbenfrei. „Die Anzahl der regenerativen Zellen nimmt im Laufe des Lebens ab. Narben bildende Fibroblasten kommen dazu“, sagt der Experte.
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Narbentherapie heute
Mediziner versuchen heute, größere Wundmale nach Operationen durch Unterhautnähte und schonende Operationstechniken zu vermeiden. Doch die Spuren von Eingriffen, Verletzungen oder Verbrennungen können auch sie nicht verhindern. „Ob Menschen nach einem Schnitt wulstige Narben oder Akne-Narben bilden, ist auch genetisch festgelegt“, erklärt Dermatologe Gauglitz. Er ist Autor der Leitlinien zur Narbenbehandlung. In seiner Münchner Praxis behandelt er täglich Patienten, die durch Akne, Verbrennungen, Operationen oder Unfälle von auffälligen Narben gezeichnet sind. Gute Erfahrungen macht er mit Lasern.
„Die Laserimpulse dringen in die Lederhaut ein und verursachen dort viele mikroskopisch kleine Verletzungen“.
(Gerd Gauglitz)
„Die Laserimpulse dringen in die Lederhaut ein und verursachen dort viele mikroskopisch kleine Verletzungen“, erklärt der Hautarzt. Ein neuer Wundheilungsprozess wird in Gang gesetzt. Altes Kollagen wird zerstört und neues aufgebaut. Besonders wulstige Narben, Mediziner sprechen von erhabenen Narben, behandelt der Dermatologe auf diese Weise.
Narbenformen
Je nach Veranlagung und Körperregion bildet die Haut unterschiedliche Narben. Mediziner unterscheiden vier Arten.
1. Die erhabene (hypertrophe) Narbe entsteht meist unmittelbar nach der Wundheilung durch eine Überproduktion von Bindegewebe.
2. Nach innen gezogene (sklerotische) Narben haben eine besonders feste Struktur. Sie sind häufig das Ergebnis von Brandverletzungen.
3. Bei eingesunkenen (atrophen) Narben reicht die Produktion von Bindegewebsfasern nicht aus, um die Wunde komplett aufzufüllen. Die Narben bleiben etwa nach einer Akne im Gesicht zurück.
4. Bei Keloiden wuchert das Gewebe stark über den Wundrand hinaus. Sie entstehen meist an Rücken, an Schultern oder im Dekolleté.
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Wundheilung und Narbenpflege
Aufwendige Therapien lassen sich vermeiden, wenn Patienten ihre Wundheilung im Blick behalten und rechtzeitig einen Hautarzt aufsuchen, sobald Narbengewebe über den Wundrand hinauswächst. Patienten können auch selbst dazu beitragen, dass Verletzungen gut verheilen. Wunden und frische Narben reagieren empfindlich auf Sonne, weil ihnen schützende Hautpigmente fehlen. Dermatologen empfehlen, frische Narben nicht der Sonne auszusetzen und sie ausreichend mit Sonnencreme oder Kleidung zu schützen. „Eine frische Wunde oder Naht sollte außerdem möglichst wenig unter Zug stehen“, sagt Dermatologe Gauglitz. Er empfiehlt, bis zu vier Wochen nach der Verletzung auf Sport zu verzichten.
Ein Spray gegen Narben
Die Wissenschaftler am Helmholtz Zentrum testen Moleküle, die Narben bildende Fibroblasten unterdrücken. Biologe Adrian Fischer untersucht für das Projekt „Narbenfreie Welt“ jene Zellschicht, die Brust- und Bauchhöhle auskleidet und Lunge, Herz, Leber und Fortpflanzungsorgane umgibt. Experten nennen es das Mesothel. „Bei jeder Bauchoperation wird dieses Gewebe verletzt“, erklärt Biologe Fischer.
Er ist fasziniert davon, wie Zellen bei der Heilung miteinander kommunizieren. Stehen die Zellen des Mesothels unter Stress, fangen sie an, sich mit ihren Armen wild zu bewegen. Mit den Armen docken die Fibroblasten an andere Bindegewebszellen an und stiften sie an, weitere Kollagenfasern zu spinnen. Organe, die normalerweise nicht miteinander verbunden sind, verwachsen miteinander.
Experten schätzen, dass nach einer Bauch-Operation etwa 90 Prozent der Patienten Verwachsungen, auch Adhäsionen genannt, bilden. 20 Prozent der Patienten leiden nach dem Eingriff unter Komplikationen, wie chronischen Schmerzen oder Verdauungsstörungen. „Die Moleküle, die wir gefunden haben, blockieren in unseren Experimenten die Arme der gestressten Mesothelzellen“, sagt Wissenschaftler Fischer. Währenddessen verschließen die verbleibenden guten Bindegewebszellen die Wunde, ohne Verwachsungen zu bilden. Die Forscher wollen die Moleküle nun in ein Spray oder in eine Emulsion übertragen. „Chirurgen oder Dermatologen könnten diesen Wirkstoff nach einem Eingriff auf die Verletzung sprühen“, sagt Fischer. Auch eine im Labor hergestellte Haut mit den guten Bindegewebszellen stellen sich die Forscher als Therapiemöglichkeit für Brandopfer oder für Menschen mit besonders großen Wunden vor.
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Ausblick
Die Forscher gehen davon aus, dass es noch fünf bis zehn Jahre dauern wird, bis die Therapie in der Praxis angewandt werden kann. Bis dahin ist noch einiges zu tun. Biologe Rinkevich will weitere Fibroblastenarten identifizieren. Er vermutet, dass es noch über 20 verschiedene gibt. Dazu wird er weiterhin die Wundheilung verschiedener Gewebe – am Rücken, am Bauch, an den Beinen und im Inneren des Körpers – unter dem Mikroskop untersuchen. Ein Rätsel aber kann er nicht lösen: „Härchen, Schweiß- und Talgdrüsen fehlen der regenerierten narbenlosen Haut.“ Dem Menschen geht an dieser Körperstelle das Gefühl für Wärme, Kälte oder Berührungen verloren. „An das Original“, muss der Forscher gestehen, „kommt einfach nichts ran.“
Veranstaltungshinweis:
ETRS (European Tissue Repair Society) Annual Scientific Meeting 2019
(Wundheilung Jahreskonferenz)
11. – 13. September 2019
Isarforum, Deutsches Museum, München
Mehr Infos finden Sie auf www.etrs2019.de
Dies ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in FOCUS-GESUNDHEIT „Gesunde Haut und Zähne" – als Print-Heft oder als digitale Ausgabe.