Als Lina (Name von der Redaktion geändert) fünf Jahre alt war, bekam sie unerklärliche Kopfschmerzen. Ihr Hausarzt veranlasste eine MRT, die keine Hinweise gab, und so ließ man die Sache zunächst auf sich beruhen. Eineinhalb Jahre später wurden Linas Sehnerven immer dünner, sie begann zu erblinden und ihr Gehör zu verlieren. Mit sieben war ihr Körper übersät mit stecknadelkopfgroßen, windpockenartigen Gebilden, die durch den Verschluss kleiner Arterien in der Haut entstehen. Wenig später war sie vollständig gelähmt und wurde zum Pflegefall.
Lina leidet an der sehr seltenen Köhlmeier-Degos-Erkrankung. Auf der ganzen Welt gibt es nicht mehr als 200 Patienten. Die meisten von ihnen sterben zwei bis drei Jahre nach der Diagnose. Die Ursache der Krankheit war unklar, eine Therapie gab es nicht.
Das waren die ernüchternden Rahmenbedingungen, als sich Lina vor zwei Jahren in der Klinik für Kinderheilkunde der Berliner Charité, Schwerpunkt Neurologie, vorstellte. Selbst die Direktorin der Klinik, Neurologin Angela Kaindl, hatte zu diesem Zeitpunkt vom Köhlmeier-Degos-Syndrom noch nie gehört.
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Prof. Angela Kaindl, Direktorin der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Neurologie der Berliner CharitéDass die Professorin heute mehr über die seltene Erkrankung weiß als fast jeder andere, liegt daran, dass sie den Dingen gern auf den Grund geht: „Ich war berührt von der Geschichte dieses Mädchens. Und von dem Willen seiner Eltern, trotz aussichtslos erscheinender Situation einen Weg zu finden, das Leben ihres Kindes zu retten.“
Die Suche nach der Ursache für die Erkrankung
Weil der Klinikalltag zu wenig Raum ließ, vertiefte sich die 47-jährige Neuropädiaterin in den nächsten Monaten abends in den Fall und versuchte in detektivischer Kleinarbeit, Puzzleteile zusammenzusetzen, die sie selbst erst herstellen musste. „Es hat sich mehr als gelohnt“, sagt sie. Die Köhlmeier-Degos-Erkrankung – benannt nach dem Pathologen Walter Köhlmeier und dem Dermatologen Robert Degos, die das Syndrom im Jahr 1940 unabhängig voneinander erstmals beschrieben – zerstört bei 40 Prozent der Patienten nur die kleinen Arterien der Haut. In der Mehrzahl der Fälle setzen sich die Gefäßverschlüsse aber im Inneren des Körpers fort. Dann sprechen Mediziner von der malignen (bösartigen) Form, die in der Regel ein Todesurteil ist.
Bei Lina handelte es sich um die schwerwiegendste Variante: Ihr Gehirn war betroffen, die Magnetresonanztomografie zeigte bereits etliche mit Hirnwasser gefüllte Leerstellen. Solche entzündlichen Läsionen kamen auch in ihrem Rückenmark vor. „Ich habe von Anfang an eine genetische Ursache vermutet“, sagt Kaindl. Ein Verdacht, der sich bei einer umfassen den Genom-Analyse – der sogenannten Exom-Diagnostik – bestätigte. Die Auswertung offenbarte, was die genetische Routineuntersuchung nicht erfasst hatte: eine Mutation im Interferon-Gen IFNAR1. Interferone sind Eiweiße, die das Immunsystem aktivieren können. Bei In-vitro-Studien im Labor wies Kaindl mit ihrem Team nach, dass diese spezielle Variante eine krankhafte Überreaktion des Immunsystems auslöst. Wofür auch die erhöhten Interferonwerte in Blut und Nervenwasser der jungen Patientin sprachen.
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Die Suche nach der richtigen Therapie
Die Suche nach einem therapeutischen Ansatz führte Kaindl zu einer Phase-II-Studie des Herstellers AstraZeneca. Hier setzten Wissenschaftler bei zunächst wenigen Erwachsenen, die an der Autoimmunkrankheit Lupus erythematodes (SLE) erkrankt waren, einen Antikörper namens Anifrolumab gegen IFNAR1 ein. Der Antikörper war nicht als Medikament zugelassen und somit auch nicht erhältlich. Kaindl tat das einzig Mögliche: Sie kontaktierte den AstraZeneca-Chef persönlich. „Ich habe hier eine neunjährige Patientin, die ohne Behandlung sterben wird“, erklärte sie ihm. „Mein Team und ich haben die Ursache der Erkrankung gefunden, und Sie haben eine Substanz, die genau dort angreifen kann.“
Viele Videokonferenzen und einige Hundert E-Mails später willigte AstraZeneca schließlich ein. Wenn auch mit erheblichen Bedenken, denn es gab keinerlei Daten zu Dosierung und Verträglichkeit bei Kindern. „Welche Dosis wollen Sie denn nehmen?“, wurde die Ärztin gefragt. „Ich weiß es nicht, weil es keine Erfahrung gibt“, antwortete Kaindl. Schlussendlich schätzte sie die Dosis anhand des Körpergewichts des Kindes. „Wenn es schiefgeht“, sagte sie zu Linas Eltern, „kann ihr Kind an der Therapie versterben.“ Im Wissen, dass es die letzte Chance war, stimmten diese der Behandlung zu.
Die Therapie schlägt an
Kurz vor Weihnachten 2021 bekam Lina die erste Infusion. Zu diesem Zeitpunkt war sie schläfrig, komplett bettlägerig und konnte kaum mehr kommunizieren. Wenige Tage später klarte sie auf, vier Wochen danach lachte sie und sang englische Lieder. Die Interferonsignatur normalisierte sich, und die entzündlichen Läsionen des Nervensystems gingen zurück.
Trotz gelegentlicher Erkrankungen der oberen Luftwege blieb ihr Zustand stabil – bis ein schwerer Covid-Verlauf einen Rückschlag brachte. Sechs Wochen kämpfte Lina auf der Intensivstation ums Überleben, lag zeitweise im künstlichen Koma. Doch sie schaffte es. Heute sitzt sie mit ihrer glücklichen Mutter vor ihrem Pflegebett und winkt via Zoom-Konferenz in die Kamera.
Noch wird sie nachts beatmet und kann deshalb nicht so gut sprechen, doch bald kann wahrscheinlich auf die Beatmung verzichtet werden. Lina wirkt zugewandt, fast heiter, sagt Danke und lässt keinen Zweifel daran, dass sie leben kann und möchte – mithilfe einer Präzisionstherapie, die nach der ausgestandenen Corona-Infektion wieder aufgenommen wurde. Und die in ihrem Fall so erfolgreich ist, dass sie auch anderen Kindern in der Welt Hoffnung macht. Demnächst will Angela Kaindl mit Kollegen eine internationale Studie starten.