Am Institut für Umweltmedizin (IEM) des Helmholtz Zentrums München steht Wissenschaftlerin Claudia Traidl-Hoffmann vor einer der Klimakammern. Auch mitten im Winter gedeihen hier Pflanzen wie Ambrosia. Mal atmen sie saubere Luft, mal Großstadtmief. Die Leiterin des Instituts und ihr Team interessieren vor allem die Auswirkungen, die Klimawandel und Luftverschmutzung auf das Aggressionspotenzial der Pollen haben. Unter Laborbedingungen simulieren die Forscher hier ein Umweltszenario, das sich wenige Meter weiter vor den Türen den Instituts im realen Leben abspielt.
Der Klimawandel wirkt sich auf den gesamten Organismus aus
Im besonders milden Winter 2019/2020 saßen die Münchner im Januar bei Temperaturen von knapp 13 Grad vor den Cafés und tranken Cappuccino in der Sonne. Mit einer durchschnittlichen Temperatur von 4,1 Grad war dieser Winter einer der wärmsten seit dem Beginn der Wetteraufzeichnung 1881. In Müllheim bei Freiburg etwa kletterte das Thermometer auf frühlingshafte 21,5 Grad.
Zugleich litten viele Menschen an allergischen Reaktionen wie juckenden und geschwollenen Augen, laufender Nase oder Atemwegsbeschwerden. Denn die warmen Temperaturen ließen Bäume wie Haselnuss oder Erle schon zu Beginn des Jahres erblühen.
Umweltmedizinerin Claudia Traidl-Hoffmann ist überzeugt: „Der Klimawandel wirkt sich auf den gesamten Organismus aus. Die Zunahme von Allergien ist nur ein Teil davon.“
Weltweit registrieren Wissenschaftler eine zunehmende Pollenkonzentration in der Luft, die die Allergieneigung in die Höhe treibt. Forscher der University of Utah in Salt Lake City konnten kürzlich anhand von Messdaten zeigen, dass die Konzentration allergener Pollen in ganz Nordamerika seit 1990 um 21 Prozent gestiegen ist. Die Saison, in der Pollen fliegen, beginnt den Untersuchungen zufolge 20 Tage früher als noch vor 20 Jahren.
Ähnliche Zahlen liefert auch der deutsche Allergieinformationsdienst: Die Anzahl der Allergiker ist in westlichen Industriestaaten in den letzten Jahrzehnten um das 20Fache gestiegen. Knapp einem Drittel der Erwachsenen zwischen 18 und 79 Jahren haben Mediziner bereits eine Allergie attestiert – in den meisten Fällen den Heuschnupfen.Das Klima kippt, die Umwelt reagiert, und der Mensch leidet. Hilflos ausgeliefert sind wir dem Pollen-Tsunami allerdings nicht. Bundesweit arbeiten Wissenschaftler daran, die konkreten Auslöser zu definieren, um das Risiko und die Schwere einer Allergie für die Allgemeinheit und jeden Einzelnen zu reduzieren.
Zwei Ansätze kristallisieren sich heraus: aggressiven Pollen den Nährboden entziehen und die Resistenz des Immunsystem erhöhen. Was jetzt zu tun ist, damit wir künftig besser durchatmen können, und wie wir uns heute schon wirksam schützen.
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Warum heimische Pflanzen agressiver werden
Stadtpollen schlägt Landpflanze – zumindest beim Allergiepotenzial. Das stellten Studenten der Universität Augsburg bereits 2018 in ersten Feldstudien fest. An Birkenbäumen in Stadt und Region brachten sie Messstationen für den Stickstoffdioxid- und Ozongehalt in der Luft an. Sie zählten die Birkenkätzchen an ihren Versuchsbäumen, knipsten Kätzchen ab und untersuchten die Pollen im Labor. Das Ergebnis: Stadtbirken produzieren tendenziell mehr Pollen.
Träufelte man deren Allergene beim Prick-Test auf die menschliche Haut, entwickelten die Versuchspersonen zudem sichtlich größere Quaddeln als bei Pollen von ländlichen Birken.
An diese empirischen Beobachtungen knüpfen Wissenschaftler des Münchner Helmholtz Instituts mit ihren heutigen Studien an. In einem Gewächshaus, einem sogenannten Phytotron, setzen sie Pflanzen wie Birken oder Ambrosia hohen Stickoxidbelastungen, CO2 oder Trockenheit aus – Bedingungen, wie sie bei einem ungünstigen Klimaszenario herrschen.
Um die Schlagkraft der Allergene zu messen, untersuchen sie die extrahierten Pollen unter dem Mikroskop. Das Ergebnis zeigt eindeutig: Unter dem Einfluss der Luftverschmutzung produzieren die Pflanzen eine größere Dosis an Allergenen und entzündlichen Substanzen. Darüber hinaus bilden sie auch neuartige Allergene.
CO2 wirkt zudem wachstumsfördernd auf Pflanzen. „Die Summe all dieser Faktoren führt zu einer höheren Konzentration aggressiver Pollen in der Luft“, fasst die Forscherin zusammen. Vor allem in der Stadt seien Pollen deshalb um ein Vielfaches aggressiver als in ländlichen Regionen. Ein Prozess, der sich abmildern ließe.
Verbessern sich die CO2-Belastungen in Städten – etwa durch die Nutzung von Elektromobilität –, könnte auch das Allergiepotenzial der Pflanzen wieder abnehmen, vermuten die Forscher.
Wichtig ist aus Expertensicht auch eine Stadt- und Landschaftsplanung, die Erkenntnisse der Umweltmedizin stärker berücksichtigt. Derzeit würden in vielen deutschen Städten hochallergene Bäume gepflanzt, bemängelt Traidl-Hoffmann. „Die Birke zum Beispiel, eigentlich eine Moorpflanze, hat in der Stadt nicht viel zu suchen.“
Der Potsdamer Platz in Berlin sei von den Behörden mit Birken begrünt worden. „Dabei gibt es eine Reihe weniger allergieauslösender Bäume wie etwa heimische Ahorn- und Kastanienbäume, Obstbäume, Linden oder Akazien“, sagt die Forscherin, die sich eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Behörden und Landschaftsplanern wünscht.
FOCUS-GESUNDHEIT 02/22
Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in der Ausgabe Haut & Allergie. Weitere Themen: Innovative Therapien bei Pollen-, Tierhaar- oder Hausstaubmilben-Allergie. Forscher testen Ernährung gegen Schuppenflechte. U.v.m.Zum E-Paper Shop
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Hochallergene Pflanzen: wie sich die Ausbreitung stoppen lässt
Andere hochallergene Pflanzen siedeln sich an, ohne dass der Mensch einen Spaten in die Hand nimmt. Neophyten nennen Experten Gewächse aus wärmeren Regionen, die sich infolge steigender Temperaturen in Europa ausbreiten – vor allem, wenn man ihnen den entsprechenden Freiraum serviert.
„Große Brachflächen wie ehemalige Kohle- und Tagebaugebiete werden rasch von neuen invasiven und resistenten Pflanzenarten überwuchert“, beobachtet Jan C. Simon, Professor für Dermatologie und Allergologie an der Universität Leipzig. „Land und Stadt müssen die Renaturierung solcher Gebiete vernünftig planen.“
Simons besondere Aufmerksamkeit gilt dem Götterbaum, einer Pflanze aus Nordchina, die mittlerweile in vielen Parks in Berlin, Dresden oder Leipzig wuchert. „Die Pflanze wird noch völlig unterschätzt“, warnt der Experte.
Gemeinsam mit Fachkollegen für Pädiatrie, Laboratoriumsmedizin und Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde und Wissenschaftlern des Umweltforschungszentrums, des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung und Medizinern der Universitätsklinik Wien untersucht Simon, wie weit Götterbaum-Pollen fliegen und welche Wirkung sie auf den Menschen haben. „Überall dort, wo
der Götterbaum wächst, nehmen auch die allergischen Reaktionen zu“, betont Allergologe Simon.
Ailanthus Altissima (Götterbaum)
Der Götterbaum beeinträchtigt das heimische Ökosystem und löst beim Menschen starke Hautreaktionen aus.
Merkmale: Bis zu 30 Meter hoher Baum mit gefiederten, bis zu 90 Zentimeter langen Blättern. Der Götterbaum bildet große Wurzelgeflechte, wächst bis zu drei Meter pro Jahr und verdrängt damit zahlreiche andere Pflanzen in seiner Umgebung.
Herkunft: In Nordchina beheimatet.
Verbreitung: In Europa wurde Götterbaum im 18. Jahrhundert als Zierbaum eingeführt. Die Pflanze ist widerstandsfähig und breitet sich vor allem in wärmeren Regionen wie im Ruhr- und Rhein-Main-Gebiet oder in ostdeutschen Trockengebieten aus.
Blüte: Im Juni und Juli.
Beseitigung und Maßnahmen: Das Bundesamt für Naturschutz empfiehlt, den Baum nicht anzupflanzen. Aufkommende Pflanzen sollten umgehend beseitigt werden. Größere Bäume können nur mit fachmännischer Hilfe beseitigt werden, weil sich der Baum nach dem Fällen durch seine Wurzelsprossen rasch wieder erholt.
Ähnliches gilt für die Ambrosia, auch Beifußblättriges Traubenkraut genannt, die ursprünglich aus Nordamerika stammt. In einer einzelnen Pflanze stecken bis zu drei Milliarden Pollen, die so klein sind, dass sie tiefer als andere Pflanzenpollen in die Haut, Atemwege oder Schleimhäute eindringen.
Ambrosia (Beifußblättriges Traubenkraut)
Ambrosia zählt zu den sogenannten Neophyten, Pflanzen, die in Regionen wachsen, in die sie eigentlich nicht gehören.
Merkmale: 15 bis 180 Zentimeter hoch, gedrungener, buschiger Wuchs.
Herkunft: In Nordamerika heimisch.
Verbreitung: Wächst auch in Japan, Australien und Europa.
Blüte: Von Juli bis Oktober, produziert jedoch bis zum Frost Pollen.
Pollen: Nur fünf bis zehn Pollen pro Kubikmeter Luft genügen, um eine allergische Reaktion hervorzurufen.
Zum Vergleich: Bei Birkenpollen muss die Konzentration etwa zehnmal so hoch sein.
Beseitigung und Maßnahmen: Größere Bestände dem örtlichen Grünflächen- oder Pflanzenschutzamt oder dem Julius Kühn-Institut melden (www.julius-kuehn.de). Beim Kauf von Vogelfuttermischungen darauf achten, dass keine Ambrosiasamen beigemengt sind.
Etwa 15 Prozent der Menschen in Deutschland sind laut Schätzungen gegen Ambrosia sensibilisiert. Das heißt, dass ihr Immusystem beim Kontakt mit der Pflanze bereits Antikörper gebildet hat. Über die Hälfte von ihnen reagiert mit juckenden Augen, laufender Nase oder Asthmaanfällen, sobald sie mit dem Kraut in Kontakt kommt.
Bundesweit sind Bürger dazu aufgerufen, Ambrosiapflanzen im heimischen Garten zu entfernen und größere Bestände im öffentlichen Raum zu melden. Dermatologe Simon hält Geomapping-Systeme für hilfreich, die aufzeichnen, wo sich allergene Arten wie Ambrosia oder Götterbaum ausbreiten, und Risikogebiete für Allergiker identifizieren. Wer Ambrosia im Garten oder auf Grünflächen in der Stadt entdeckt, solle das Grünflächenamt anrufen und die Pflanze professionell entfernen lassen, rät der Wissenschaftler.
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Allergien rechtzeitig behandeln
Der entscheidende Kampf ist nur mit Beteiligung aller zu gewinnen. „Wenn es uns gelingt, das Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erreichen und den menschengemachten Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen, können wir die Zunahme an gesundheitlichen Problemen zumindest abmildern“, hofft Umweltmedizinerin Traidl-Hoffmann.
Steigende Temperaturen locken nicht nur hochallergene Pflanzenarten an. Sie erhöhen auch die Dauer des Pollenflugs bei heimischen Arten. „Auch in den Wintermonaten steigt die Belastung“, so die Expertin. Haselnuss oder Erle blühen heute im Schnitt bis zu 15 Tage früher als noch vor 50 Jahren. Allergikern bleibt kaum noch Zeit zum Durchatmen.
„Zudem verschlechtern die Pollen die Beweglichkeit der Lunge“, warnt TraidlHoffmann. „Kommt ein Kind in früher Kindheit mit Pollen in Kontakt, hat es in seinen mittleren Lebensjahren eine schlechtere Lungenfunktion.“ Mediziner raten, Heuschnupfen und Neurodermitis vor allem bei Kindern ernst zu nehmen und schon in jungen Jahren eine Immuntherapie oder Hyposensibilisierung durchzuführen.
Egal, ob es um das globale Risiko oder die individuelle Erkrankung geht: Ignorieren ist keine Lösung.
Rüstzeug für die Abwehr
Jeder Mensch kann dazu beitragen, sein Allergierisiko oder das seiner Kinder zu senken. Hier die wichtigsten Empfehlungen der Experten:
Neurodermitis ist einer der größten Risikofaktoren für die Allergie entstehung. Etwa 20 bis 30 Prozent der Kinder entwickeln die Hauterkrankung, die meist im dritten Lebensmonat auftritt. „Wichtig ist, dass die Haut gut behandelt und gepflegt wird, damit die Hautbarriere intakt bleibt und wenig Schadstoffe und Allergene einlässt“, sagt die Münchner Umweltmedizinerin Claudia Traidl-Hoffmann.
Heuschnupfen manifestiert sich meist zwischen dem 7. und 14. Lebensjahr. Viele Betroffene sind genetisch vorbelastet. Mindestens eines der Elternteile oder Geschwister leiden unter der Allergie. Eine Behandlung ist wichtig. Bis zu 40 Prozent der Patienten mit unbehandeltem Heuschnupfen entwickeln später Asthma. Mediziner sprechen vom sogenannten Etagenwechsel.
Während der Schwangerschaft können Mütter dafür sorgen, dass das Allergierisiko ihres Nachwuchses zumindest gesenkt wird. „Aufs Rauchen verzichten und den Stress gering halten sind die zwei wichtigsten vorbeugenden Maßnahmen“, sagt Traidl-Hoffmann. „Außerdem sollten sich Schwangere fleischarm, gemüsereich und vielfältig ernähren.“ Einen besonders schützenden Effekt habe unbelasteter Fisch, am besten aus heimischen Gewässern.
In den ersten zwei Lebensjahren senkt auch eine allergievorbeugende Ernährung das spätere Risiko zuerkranken. Eltern sollten ihre kleinen Kinder durch einen bunten Speiseplan an möglichst viele Nahrungsmittel heranführen. Eine umfangreiche Studie zur Erdnussallergie etwa zeigt, dass die Aufnahme der Hülsenfrucht in jungen Jahren schützend wirkt.
Vielfältige Ernährung mit ausreichend Gemüse und Ballaststoffen trägt zu einer gesunden Bakterienvielfalt im Darm bei, die wiederum das Immunsystem unterstützt. Um gekehrt scheint eine Ernährung mit einem hohen Anteil an gesättigten freien Fettsäuren, wie sie häufig in Fertigkost oder Fast Food vorkommen, atopische Hauterkrankungen wie etwa Psoriasis zu begünstigen. Der Leipziger Dermatologe Jan C. Simon konnte in Studien nachweisen, dass eine Verringerung gesättigter Fettsäuren, wie sie in Butter, Fleisch oder Fast Food vorkommen, die Hautentzündungen einer Schuppenflechte lindert.
Übertriebene Hygiene ist unnötig. Eine Vielfalt schützender Bakterien in der Umwelt, auf der Haut oder im Darm fördern die Gesundheit. „Fehlen diese protektiven Faktoren, erkrankt der Mensch schneller an chronischen Entzündungen und Allergien“, so Traidl-Hoffmann.
Immuntherapie oder Hyposensibilisierung unterstützen die Abwehr im Umgang mit Allergie auslösern. Betroffene sollten sie möglichst schon in jungen Jahren in Anspruch nehmen.