Es gibt gemütlichere Orte als diesen. Ein in den Schnee eingelassener Tank mit grau-kaltem Eiswasser auf 2.600 Meter Höhe des Zugspitze-Plateaus, minus zehn Grad Außentemperatur.
Um mich herum verlangsamen dick eingemummelte Skifahrer und Rodler ihr Tempo, um mich bei meiner Aufgabe zu beobachten: Zwei Minuten gilt es, bis zu den Schultern eingetaucht, im null Grad kalten Wasser auszuharren. Helfen soll mir dabei die richtige Atmung. Das Experiment gehört zu einem Seminar, bei dem die Teilnehmer die beeindruckende Wirkung von Atemtechniken im Selbstversuch kennenlernen.
Seminarleiter Moritz Ross von „Embrace Your Breath“ ist zertifizierter Atemtrainer nach der sogenannten Wim-Hof-Methode, entwickelt vom gleichnamigen niederländischen Extremsportler und Weltrekordhalter im Eisbaden (eine Stunde, 52 Minuten und 42 Sekunden). „Es ist alles eine Frage der Atemtechnik“, proklamiert Ross, der die Kaltbade-Neulinge auf ihrem Weg ins Eis begleitet. „Allein mit dem Atem lässt sich die Hormonausschüttung des Körpers so steuern, dass wir Adrenalin produzieren, was uns energetischer und fokussierter macht“, erklärt er.4-6-8 zur Entspannung
Die Arbeit einer chinesischen Forschergruppe deutet dagegen darauf hin, dass eine tiefe Bauchatmung helfen kann, die negativen Auswirkungen von Stress zu reduzieren. 20 Teilnehmer, die ein Atemtraining erhielten, zeigten eine verbesserte Aufmerksamkeit und Gemütslage im Vergleich zur Kontrollgruppe. Zudem hatten die Bauchatmer geringere Cortisol-Mengen im Blut – das Hormon ist wichtiger Indikator für die körperliche Wirkung von Stress. „Eine tiefe, kontrollierte Atmung aktiviert den Vagusnerv. Dieser sorgt für die Ausschüttung von Hormonen wie Endorphinen, Serotonin und anderen Neurotransmittern, die zu einer Entspannungsreaktion führen“, so Koczulla.
Deshalb also lassen sich mit der richtigen Technik Stress und Schmerzen wegatmen, Ängste verringern, ja sogar das Immunsystem triggern. Doch statt uns von der Kraft des Atmens tragen zu lassen, hecheln wir buchstäblich durchs Leben.
Video: Wie Atmen wirken kann – Prof. Rembert Koczulla im Interview
Eine Welt außer Atem
„Seit 1900 hat sich die durchschnittliche Atemfrequenz in den westlichen Ländern fast verdoppelt“, sagt Atemphysiotherapeut Hinz. Eigentlich genügen einem Erwachsenen sechs bis acht Atemzüge pro Minute. Im Lauf der letzten 120 Jahre hat sich die Frequenz auf zwölf- bis 15-mal Luftholen erhöht. „Nichtmedikamentöse Ansätze wie die Atemphysiotherapie werden in der individualisierten Medizin immer bedeutender“, ist sich Pneumologe Koczulla sicher.
Als wichtigsten Baustein einer Atemtherapie nennt Hinz, „den Patienten das Luftholen fühlen und beschreiben zu lassen. So können wir individuelle Probleme erkennen und die Atmung durch Verhaltensänderungen anpassen.“ Die Behandlung hilft Menschen mit COPD, Asthma, Long Covid, Lungenhochdruck, nach oder vor einer Lungentransplantation, nach Operationen am Oberkörper, mit seltenen Lungenerkrankungen sowie psychosomatischen Patienten.Die richtige Atmung ist langsam, sie beginnt in der Nase und geht bis tief in den Bauch. Durch die feinen Härchen am Naseneingang und die große Oberfläche der Nasenschleimhaut gelangt die Luft vorgereinigt und befeuchtet in die Lunge. Das schützt vor Krankheitserregern. Atmet man auch durch die Nase aus, reichern sich dort Kohlendioxid und Stickoxide an. „Wird ein bestimmter Schwellenwert überschritten, geben sie dem Körper den Impuls, Luft zu holen“, so Hinz. Das geschieht ganz automatisch.
Checkliste: richtig atmen
Die folgenden Punkte kann jeder beachten. Lungenpatienten profitieren besonders
- Zeit nehmen: Die meisten atmen eher zu schnell, durchschnittlich 12 bis 15 Atemzüge pro Minute. 6 bis 8 wären ausreichend
- Pausen zulassen: Zur Atmung gehört nicht nur Ein und Ausatmung, sondern auch ein kurzes Verweilen nach dem Ausatmen
- Nasenatmung: Über die Nase sowohl ein als auch ausatmen
- Atemräume nutzen: Tief in den Bauch atmen
- Achtsamkeit: Atmung wahrnehmen und bewusst in eine ruhige Nasenatmung kommen
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Das Immunsystem steuern
Im Zugspitze-Seminar weist uns Wim-Hof-Trainer Ross an, 30- bis 40-mal tief durch die Nase einzuatmen. Zunächst wird der Bauch mit Luft gefüllt, dann die Brust. Ausatmen sollen wir in umgekehrter Reihenfolge über den Mund, sodass die Atmung wie eine Welle durch den Körper läuft. Es folgt ein tiefer Atemzug, bevor wir die Luft anhalten. Nach vier Wiederholungen, bei denen sich die Zeit der Atempause von 45 Sekunden auf eine Minute und 45 Sekunden steigert, fühle ich mich schwindelig. Meine Arme und Beine kribbeln. Andere Teilnehmer haben das Gefühl, ein Stück über der Matte zu schweben, und sind emotional berührt.
Ross rät, nur im gesunden Zustand und unter Anleitung zu üben und dabei gut auf seine Verfassung zu achten. „Der Körper fällt bei der Meditation in eine sogenannte Hypoxie“, erklärt der Wim Hof-Trainer. Während man die Luft anhält, steigt die Kohlendioxid-Konzentration im Blut. Dabei verschiebt sich der pH-Wert ins Alkalische (wird höher), und die roten Blutkörperchen geben keinen Sauerstoff mehr ab. Für den Körper bedeutet das Stress. Er schüttet Adrenalin aus.
„In Studien war das Adrenalin-Level so hoch wie bei einem Bungeejump – nur eben in einer ruhigen, liegenden Position, gesteuert allein durch die Atmung“, so Ross. Das Hormon pusht und erleichtert es, die Kälte auszuhalten, der wir uns im Anschluss an die Atemmeditation aussetzen wollen. Der bewusst gesetzte Stress soll Geist und Körper stärken, schreibt Wim Hof in seinem Buch.
Die niederländischen Wissenschaftler Matthijs Kox und Peter Pickkers zeigten in einem Experiment, dass die Methode das Immunsystem positiv beeinflussen kann. Sie verabreichten 24 Freiwilligen ein bakterielles Toxin. Zwölf hatten zuvor an einer Wim-Hof-Schulung mit Atemübungen sowie Schwimmen im Eiswasser teilgenommen. In ihrem Blut fanden sich 200 Prozent mehr antientzündliche Substanzen, während Entzündungsmediatoren im Vergleich zur Kontrollgruppe um 50 Prozent reduziert waren. Nur die Personen ohne Schulung hatten grippeähnliche Symptome.
Video-Anleitung: So geht die Wim-Hof-Atmentechnik
In die Gesundheit zurückatmen
Richtiges Atmen kann demnach gesund halten – oder wieder gesünder machen. Etwa wenn nach einer Corona-Infektion die Nerven geschädigt sind, die das Zwerchfell versorgen. „In der Atemtherapie üben Patienten dann, das Zwerchfell aktiv anzusteuern“, sagt Physiotherapeut Hinz.
Es ist der wichtigste Spieler, der die passive Lunge wie einen Blasebalg bewegt und allein bis zu 70 Prozent füllt. Positiver Nebeneffekt des Trainings: Es massiert die Organe im Bauchraum. „Mit der Atemtherapie verschwinden oft auch Verstopfungen oder Druck im Oberbauch“, so auszuatmen. „Viele Lungenerkrankte neigen zu einer sogenannten dynamischen Überblähung“, erklärt Lungenarzt Koczulla. Die Atemwege sind eng, und die Luft entweicht nur schwer oder gar nicht und verbleibt teilweise in der Lunge.Manche beobachten bei der Einzeltherapie, dass sie immer wieder durch den Mund Luft holen. Sie lernen, sich nur so weit zu belasten, dass eine Nasenatmung möglich bleibt. Wer unter Atemnot leidet, übt die Lippenbremse. „In diesem Fall hilft das geräuschvolle Ausatmen mit geschürzten Lippen, die vibrieren wie eine Hummel, den Atem besser wahrzunehmen und Ängste zu lindern“, erläutert Hinz.
In der Reha kombinieren Ärzte die Atemtherapie oft mit antientzündlichen Medikamenten oder Drainagen. Diese befreien die Atemwege von Schleim. Ebenso gehören meditative Elemente zur Behandlung. „Gerade Menschen mit Lungenerkrankungen neigen unter Stress dazu, in eine ungesunde Atmung zu verfallen“, berichtet Hinz.
FOCUS-GESUNDHEIT 06/23
Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in der Ausgabe Rehakliniken 2024. Weitere Themen: Breites Behandlungsspektrum in der Post-Covid-Reha. Reha-Modelle für junge Krebs-Patienten. U.v.m.
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Auch ich bin beim Anblick des Eiswassers versucht, in Stressatmung zu geraten. Wäre da nicht der Breath-Coach. Was hat uns Moritz Ross mitgegeben? „Fokussiere dich ganz auf den Atem, hole tief Luft und summe beim Ausatmen.“ Ich bin überrascht, wie gut mich das von der Kälte ablenkt. „Das ist im Wesentlichen der Grund, warum sich Schmerzen ein Stück weit ‚wegatmen‘ lassen“, wird mir später Lungenarzt Koczulla erklären. Die geforderten zwei Minuten schaffe ich leicht. Anders als erwartet – ich hatte mit einem Taubheitsgefühl gerechnet – spüre ich Arme und Beine relativ normal. Die Gase der Atemluft sorgen dafür, dass sich die Gefäße weit stellen. Anschließend fühle ich mich sehr müde, aber belebt und glücklich.