Unser Experte für Urologie
Olaf P. Jungmann, Facharzt für Urologie, medikamentöse Tumortherapie und Palliativmedizin. Er ist leitender Oberarzt der Urologischen Klinik Lindenthal am St. Hildegardis Krankenhaus in Köln. Sein Spezialgebiet ist die Therapie von Harnsteinen.Herr Jungmann, die Zahl der Patienten mit Harnsteinen in Deutschland hat sich in den letzten zehn Jahren verdreifacht! Haben Sie eine Erklärung dafür?Das hängt mit den Ursachen zusammen. Neben genetischen Komponenten zählen Übergewicht, einseitige Ernährung und Bewegungsmangel zu den Hauptrisikofaktoren für die Entstehung von Harnsteinen.
Warum bilden sich Harnsteine und was hat das mit dem Lebensstil zu tun?
Wenn der Körper von einer Substanz mehr ausscheidet als sich im Urin lösen kann, besteht die Gefahr, dass sich Ablagerungen bilden. Das passiert bei jedem von uns täglich, zum Beispiel nachts, wenn wir nicht so viel trinken. In der Regel sind das aber nur mikroskopisch kleine Kristalle, die wir beim nächsten Toilettengang wieder ausscheiden. Wenn sich aber zu viel festsetzt oder die Kristallisationskeime aus bestimmten Gründen nicht ausgespült werden, entstehen sichtbare Steine, die im Extremfall auf die Größe einer Kinderfaust anwachsen können. Das ist unter anderem abhängig von unserem Stoffwechsel, den wir durch Ernährung und Sport maßgeblich beeinflussen.
Woraus bestehen Harnsteine?
Das ist sehr unterschiedlich. Häufig aus Kalziumverbindungen wie Kalziumoxalat oder -phosphat. Die zweite große Gruppe sind Harnsäuresteine. Sie treten oft bei Übergewichtigen auf, denn die Harnsäure entsteht beim Abbau von Substanzen, die etwa in Fleisch oder Bier enthalten sind. Und dann gibt es sogenannte Infektsteine, die bei Patienten mit chronischen bakteriellen Infektionen des Harntraktes entstehen und sich aus Stoffwechselprodukten der Mikroorganismen zusammensetzen. Eine weitere Gruppe sind die Zystinsteine, die auf einer Stoffwechselstörung beruhen. Es kommen auch Mischformen und seltene Gruppen vor. Zum Beispiel gibt es Medikamente, bei denen sich als Nebenwirkung manchmal Steine bilden.
Analysieren Ärzte, woraus die Harnsteine bestehen?
In der Regel hat es Sinn, zu versuchen, etwas von dem Stein aufzufangen und zur chemischen Untersuchung zu geben. Denn wer einmal Harnsteine hatte und nichts an seinem Lebensstil ändert, hat in den nachfolgenden zehn Jahren ein fast 70-prozentiges Risiko, dass sich erneut Ablagerungen in den Nieren oder in der Blase bilden.
Es gibt auch schützende Stoffe im Urin, die die Steinbildung verhindern. So erhöht beispielsweise Citrat die Löslichkeit vieler Substanzen. Je nach Steinart kann es sinnvoll sein, auch die Zusammensetzung des Urins zu untersuchen.
Wie steht es mit viel trinken? Lässt sich damit Harnsteinen allgemein vorbeugen?
Absolut, aber dabei ist entscheidend, dass Sie die über den Tag verteilte Trinkmenge erhöhen. Es bringt also wenig, den ganzen Tag keinen Tropfen Wasser anzurühren und abends vier Flaschen Mineralwasser zu leeren. Die Kristalle bilden sich in den Durstphasen. Ich empfehle sich anzugewöhnen, zu jeder Mahlzeit ein Halbliter-Glas Wasser zu trinken.
Es gibt aber tatsächlich Situationen, bei denen es eher kontraproduktiv ist, viel Flüssigkeit aufzunehmen. Etwa während versucht wird, Steine durch eine Verschiebung des pH-Wertes ins Basische aufzulösen. Durch zu starke Urinverdünnung wirkt dieser Therapiemechanismus nicht ausreichend. Das ist aber die absolute Ausnahme.
Die meisten Steine entstehen in den Nieren. Am häufigsten entfernen Ärzte Harnsteine im dünnen Harnleiter, in dem sie sich nicht bilden, aber aufgrund der Enge Probleme bereiten. In der Harnblase entstehen Steine in der Regel, wenn der Abfluss behindert ist, die Harnblase sich also nicht mehr vollständig entleert.
Macht sich ein Stein aber auf die Reise in den engen Harnleiter, reichen wenige Millimeter Durchmesser aus, um diesen zu verstopfen. Es entstehen Schmerzen bis zur Kolik (krampfartige Schmerzanfälle) und der Harnstein muss gegebenenfalls entfernt werden.
Harnsteine können auch indirekt Probleme verursachen. Weil sie Nährboden für Bakterien sind, bekommen manche Patienten wegen der Steine immer wieder entzündliche Infekte im Harntrakt.
Wie wichtig ist es, Harnsteine frühzeitig zu erkennen?
Grundsätzlich gilt, je kleiner die Steine sind, desto besser können Urologen sie behandeln. Aber nicht jeder Stein muss auch entfernt werden. Und die Therapiemöglichkeiten bei Harnsteinen haben sich in den letzten dreißig Jahren revolutionär verbessert.
Offene Operationen wurden fast vollständig von minimalinvasiven Verfahren abgelöst. Bei der Extraporalen Stoßwellenlithotripsie (ESWL) muss gar kein Schnitt gesetzt werden. Wie funktioniert sie?
Ein Gerät erzeugt außerhalb des Körpers Stoßwellen, die wir gezielt auf den Stein in der Niere oder seltener auch im Harnleiter des Patienten richten. Die Stoßwellen zerlegen die Ablagerung in abgangsfähige kleine Fragmente.
Welche Möglichkeit zur Harnsteinentfernung gibt es noch?
Wir können die vorhandenen Wege des Körpers nutzen, Harnröhre, Harnblase und Harnleiter, um zum Stein zu kommen. Das bezeichnen wir als endoskopische Steinbehandlung. Am Ziel fassen wir den Harnstein mit Zangen, Schlingen oder Körbchen. Er kann auch vor Ort zertrümmert werden, etwa mit Ultraschall. Heute gibt es flexible Endoskope, die nur noch den Durchmesser eines dünnen Kugelschreibers besitzen. Damit gelangen wir bis ganz hoch in die letzten Kelche der Niere.
Wenn sich größere Steine in der Niere abgelagert haben, funktionieren Stoßwellen-Therapie und Endoskopie nicht mehr. Was können Sie dann tun?
In diesem Fall punktieren wir die Niere und stellen einen künstlichen Kanal von der Flanke ausgehend zum Stein her. Dieser kann vom Durchmesser deutlich dicker sein als die körpereigenen Wege. Mit den Geräten, die wir dabei verwenden können, ist es möglich auch große Steine in relativ kurzer Zeit zu zertrümmern.
Ab welcher Steingröße muss ein solcher Schnitt gesetzt werden?
Das kann ich nicht pauschal beantworten. Hierbei spielt auch die Lage des Harnsteins eine Rolle und die individuellen Bedürfnisse des Patienten. Manchmal lässt sich eine Ablagerung noch endoskopisch behandeln, aber die Operation würde sehr lange dauern oder mehrere Sitzungen erfordern. Da kann es schonender für den Patienten sein, einen künstlichen Kanal zu legen. Gerade jüngere Menschen wollen teilweise lieber nur eine Behandlung erhalten als die Zeit für mehrere langwierige Stoßwellen-Therapie-Sitzungen aufbringen zu müssen. Und die Nephroskopie, wie sich die Methode nennt, ist ja trotzdem ein minimalinvasives Verfahren.
Wir kombinieren die Nephroskopie auch mit endoskopischen Verfahren. Diese neue Methode nennt sich kurz ECIRS, wobei die Abkürzung für „Endoscopic Combined IntraRenal Surgery“ steht. Zwei Operateure können dabei in möglichst kurzer Zeit und damit so schonend wie möglich für den Patienten komplizierte Harnsteine entfernen.
Lassen sich Harnsteine mit Medikamenten auflösen?
Das funktioniert nur bei den Harnsäuresteinen, wenn sich der pH-Wert des Harns ins Alkalische verschiebt. Das Problem ist allerdings, dass wir vor der Behandlung in der Regel nicht wissen, woraus der Stein besteht. Es gibt Ansätze, mit Hilfe sogenannter Dual-Energy-Computertomografien Voraussagen über die Zusammensetzung von Harnsteinen zu treffen, dies ist aber noch im Bereich der klinischen Erprobung. Mehrere Arbeitsgruppen forschen dazu.
Welche offenen Fragen müssten gelöst werden, um die Harnsteintherapie weiter zu verbessern?
Es sind noch nicht alle Mechanismen geklärt, wie bestimmte Steine entstehen. Wenn wir das besser verstehen, können wir die Ablagerungen leichter verhindern und uns besser um die Rückfallvermeidung kümmern.
Quellen
- Online-Informationen Deutschen Gesellschaft für Urologie: www.urologenportal.de; Abruf: 29.09.2020