Acht Schritte ungefähr. Acht Schritte von der eigenen Schulbank bis vor zum Lehrerpult. Acht Schritte in das neue Ich. Noch nie im Leben, sagt Jan (Name von der Redaktion geändert), sei er so nervös gewesen wie auf diesem Weg an die Tafel, um vor seiner Klasse zu sprechen. In der schwitzigen Hand einen Zettel mit einem selbst verfassten Poetry- Slam-Text. „Leute sind anders, nicht immer gleich“, setzt er an. Und erzählt dann in rhythmischen Beats von sich, den alle mit einem Mädchennamen anreden. Denn als Mädchen wurde er geboren. Nur: Ein Mädchen will er nicht sein. Schon lange nicht mehr. Ab heute, presst er als letzten Satz hervor, bevor er aus der Klasse stürmt, wolle er als Junge leben und Jan genannt werden.
Jan sitzt auf der Couch im Wohnzimmer seines Elternhauses. Ein 17-Jähriger mit tiefer Stimme, einem vertrauensvollen Lächeln und etwas Bartwuchs um den geschwungenen Mund. Drei Jahre ist sein Outing vor der Klasse nun her. Es war der Beginn einer langen Reise – voller Hoffnung und mancher Glücksmomente, voller Schmerzen und Opfer. Einer Reise, die ohne Hormongaben nie diesen Verlauf hätte nehmen können.
Zweifel am zugewiesenem Geschlecht
Jan kam 2004 als eine von zwei Zwillingsschwestern zur Welt. Seine Eltern gaben ihm einen schönen Mädchennamen. Zwei ältere Zwillingsbrüder gab es da schon. Klar spielten Jan und seine Zwillingsschwester Lena (Name von der Redaktion geändert) auch mit Puppen. Er hatte eine eigene Babypuppe und einen Puppenwagen dazu. Aber Autos waren ihm lieber, Fußballspielen mit anderen Jungs auch. Er hasste es, wenn ihm die Mutter seines Freundes Zöpfe flechten wollte. Kleider mochte er nicht tragen. In der zweiten Klasse ließ er sich die Haare kurz schneiden. Schon jetzt sah Jan immer eher aus wie ein Junge.
Mit Einsetzen der Menstruation spitzte sich die Lage zu, 13 war er da. „Das war wirklich ein Drama“, sagt Jan. „Ich bin kaum mehr zur Schule gegangen, weil ich die Periode so hasste.“ Zu Hause verbarrikadierte er sich in seinem Zimmer, tage-, manchmal wochenlang. Um die wachsenden Brüste zu kaschieren, trug er weite, dunkelfarbige T-Shirts und eignete sich eine gekrümmte Körperhaltung an. „Da war klar, dass wir etwas unternehmen müssen“, erzählt seine Mutter Vera Fink (Name von der Redaktion geändert), die ihren Sohn seither intensiv begleitet. Gemeinsam mit ihrem Kind suchte sie die psychologische Beratungsstelle für Transgenderkinder der Uniklinik Hamburg auf.
Die kann sich vor Anfragen kaum retten. Immer mehr Kinder und Jugendliche empfinden, im falschen Geschlecht zu leben. Vor allem die Zahl der Transjungen, die sich nicht mit ihrem bei Geburt zugewiesenen weiblichen Geschlecht identifizieren können, sei in den letzten zehn Jahren um annähernd 3.000 Prozent gestiegen, berichtet der Hamburger Kinder- und Jugendendokrinologe Achim Wüsthof. „Über die Gründe können wir nur spekulieren. Aber viel spricht dafür, dass auch das gewachsene Verständnis für transidente Kinder und Jugendliche dazu beiträgt.“
Werbung
Geschlechtsangleichung: Ablauf der Behandlung
Seit mehr als 20 Jahren behandelt der Kinderarzt Transgender-Heranwachsende hormonell, um ihnen den Weg in die gewünschte geschlechtliche Identität zu ebnen – wie immer diese dann aussehen mag, denn auch hier gibt es individuell unterschiedliche Vorstellungen.
„Bei Transjunge also anatomischen Mädchen, können wir das Brustwachstum bei entsprechender Indikation mittels Hormongabe verhindern – und das kann gelegentlich schon ab einem Alter von etwa acht Jahren erforderlich werden“, erklärt Wüsthof. Jungen kommen insgesamt später in die Pubertät, sodass bei Transmädchen die Blockade meist später, mit etwa elf bis 14 Jahren, begonnen wird.
In beiden Fällen werden sogenannte GnRH-Analoga in drei- oder sechsmonatigen Abständen injiziert. Diese wirken auf die Hirnanhangdrüse und drosseln dort die Produktion von Hormonen, die Hoden und Eierstöcke zur Produktion von Geschlechtshormonen anregen würden. So wird die körperliche Entwicklung „eingefroren“, und bereits begonnene Monatsblutungen kommen zum Erliegen; auch die Hoden schrumpfen, und Erektionen bleiben aus. Erst im zweiten Schritt, etwa ab 14 bis 16 Jahren, kommen die geschlechtsangleichenden Sexualhormone zum Einsatz.
Geschlechtsangleichung: Vom Mädchen zum Mann
Geschlechtsangleichung: Vom Jungen zur Frau
❶ Bei Erstvorstellung 9 – 14 Jahre: Behandlung mit GnRH-Analogon
❷ Bei Erstvorstellung 13 – 18 Jahre: GnRH- Analogon oder Cyproteronacetat und einschleichende Östrogenbehandlung
❸ Bei Erstvorstellung 18 Jahre: Östrogene plus GnRH-Analogon oder Cyproteronacetat
Neben- und Langzeitwirkung von geschlechtsangleichenden Sexualhormonen
Es sind Hormone, die nicht nur den Körper verändern, sondern das gesamte Leben – das macht es nicht einfacher. Über ihre Neben- und Langzeitwirkung diskutieren Endokrinologen. Umstritten ist zum Beispiel, ob die geschlechtsangleichende Hormonbehandlung mit Testosteron die Fruchtbarkeit von Transmännern beeinträchtigt, die dann im Falle eines Sinneswandels – vor einer operativen Geschlechtsangleichung – keine Kinder mehr bekommen könnten.
Kritiker warnen, die Hormonblocker bestärkten Jugendliche in ihrem Wunsch der Geschlechtsumwandlung, der ohne die Wirkstoffe vielleicht wieder abflaue (was nicht erwiesen ist). Auf der anderen Seite können die Blocker viel Leid ersparen, wenn sich die zutiefst abgelehnte Vermännlichung oder Verweiblichung des Körpers gar nicht erst voll entfaltet.
„Sowohl die Pubertätsblockade als auch die geschlechtsangleichende Hormontherapie sind für transidente Heranwachsende in vielen Fällen ein Segen“, sagt Endokrinologe Wüsthof. Durch die Blockade ließe sich etwa die Brustentwicklung oder der Stimmbruch vermeiden. Beides ist nur in diesen frühen Zeitfenstern möglich. „Der Natur ihren Lauf zu lassen, ist ja keine neutrale Option“, bemerkt Wüsthof. „Denn auch die Pubertät ist irreversibel.“
Werbung
Geschlechtsangleichung: Was, wenn während der Behandlung Zweifel aufkommen?
Und dennoch fühlt sich Wüsthof in einem Dilemma. „Ich beobachte mit Sorge, dass uns sehr viele Jugendliche mit einer vermeintlichen Geschlechtsinkongruenz aufsuchen, die offensichtlich ganz andere Probleme haben“, sagt er. „Es ist eine hohe Verantwortung und oft schwierige Abwägung. Wir müssen verdammt vorsichtig sein.“ Vor allem bei dem zweiten Schritt, der geschlechtsangleichenden Hormongabe, die dann lebenslang fortgesetzt wird.
Denn anders als die reversible Pubertätsblockade erzeugen die verabreichten Sexualhormone irreversible Effekte wie den Wuchs eines Adamsapfels oder einer weiblichen Brust.
Die Frage, ob bereits Jugendliche mit Pubertätsblockern und Hormontherapie behandelt werden dürfen, wird kontrovers diskutiert. Der Münchner Kinder- und Jugendpsychiater Alexander Korte argumentiert gegen eine Behandlung vor Abschluss der Pubertät, weil sich der Verlauf einer Geschlechtsdysphorie – das Leiden an der fehlenden Identifikation mit dem angeborenen Geschlecht – in einem so frühen Stadium nicht eindeutig prognostizieren lasse. Was, wenn alles nur eine Phase war?
Wüsthof hat derlei schon erlebt. Höchst selten zum Glück, 99 Prozent der Transgender-Heranwachsenden, schätzt er, seien mit dem gewählten Weg wirklich glücklich. Aber just dieses eine Prozent der „Detransitionierer“, wie sie genannt werden, bereitet dem Kinderarzt oft schlaflose Nächte.
Da ist die Patientin, die auf ihrem Weg ins Mannsein bereits ein Jahr Testosteron erhielt, beginnender Bartwuchs, Vertiefung der Stimme, das ganze Programm war angelaufen. „Und dann verliebt sie sich in einen Jungen, setzt die Hormone ab und ist heute eine glücklich verheiratete Frau“, erzählt Wüsthof. „So etwas will man als Arzt ungern erleben.“ Noch mal alles gut gegangen, zum Glück waren noch keine geschlechtsangleichenden Operationen erfolgt. Die Patientin sagt heute, sie habe das gebraucht, um sich zu finden. „Ich glaube“, sagt Wüsthof, „sie wäre glücklicher, wenn sie keine so tiefe Stimme hätte.“
FOCUS-GESUNDHEIT 05/22
Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in der Ausgabe Hormone & Diabetes. Weitere Themen: Neue Therapien bei Diabetes und Pankreatitis. U.v.m.
Zum E-Paper-Shop
Zum Print-Shop
Geschlechtsangleichung: Körperliche Veränderungen
Bei Jan ist die Freude über seine tiefe Stimme groß. Sie war das erste, das sich unter der Gabe von Testosteron veränderte. Dann begannen die Gesichtszüge zu vermännlichen, die Wangen wurden kantiger, Bartflaum begann zu sprießen. Jan hat jedes Stadium per Selfie-Video dokumentiert. Auch dass sein Oberkörper, unterstützt von eifrigem Fitnesstraining, muskulöser und v-förmiger geworden ist, gefällt ihm.
Seit knapp zwei Jahren bekommt er alle drei Monate Testosteron von Endokrinologe Wüsthof injiziert. Vor anderthalb Jahren ließ er sich die Brüste wegoperieren. Seine Mutter begleitete ihn zur OP, sie arbeitet als Gesundheitspflegerin in dem Krankenhaus, in dem viele Transjungen und -männer die Mastektomie und später auch die Entnahme der weiblichen Geschlechtsorgane vornehmen lassen.
Oft, wenn sie deren Unterarme für die Blutabnahme freilegt, sieht Vera Fink eine von zahllosen Ritzen vernarbte Haut. „Sie glauben nicht, wie sehr viele dieser Menschen leiden“, erzählt sie beim Mittagessen mit drei ihrer vier Kinder, Jans großer Zwillingsbruder hat gekocht. Im Haus der Finks wird offen über alles gesprochen, auch über Jans Trans-Sein. „Wir machen da kein großes Ding draus“, sagt die Mutter. „Hauptsache, Jan ist glücklich. Dafür machen wir alles mit.“
Werbung
Geschlechtsangleichung: Operative Transition
Auch das, was nun noch kommen soll. Die Entnahme der weiblichen Geschlechtsorgane, dann der Penisaufbau, auch wenn der nicht zeugungsfähig macht. Je nach Verlauf sind dafür fünf bis zehn Operationen nötig. Lange Krankenhausaufenthalte, unglaubliche Schmerzen, nichts davon ohne Risiken.
„Verglichen damit war alles bisher Pillepalle“, sagt die Mutter. Jan sagt: „Ich fühle mich schon viel freier. Aber ich bin noch nicht der Mensch, der ich sein möchte. Ich will nicht ein Transgender sein, sondern ein Mann.“ Für die operative Transition muss er volljährig sein. Und ein Zertifikat von einem Psychologen mit Gender-Expertise mitbringen. Regelmäßige Gespräche sind dafür Voraussetzung, Jan soll sich ganz sicher sein. Ihn nervt das. „Ich bin kein Fan von Psychologen“, sagt er. Er hat verschiedene konsultiert, von manchen fühlte er sich komplett unverstanden. „Die hatten keine Ahnung, was es bedeutet, im falschen Körper zu sein.“
Seine Psychologin und auch sein Arzt Achim Wüsthof raten Jan dazu, erst einmal sexuelle Erfahrungen zu machen, bevor er sich für die Operationen entscheidet. Jan, obwohl er seit Kurzem eine Freundin hat, will das keinesfalls. „Das sagen die so einfach. Es ist leichter gesagt als getan.“
Geschlechtsangleichung: Psychologische Begleitung und Begutachtung
Wobei, ganz so einfach sagen die das nicht. Die intensive psychologische Begleitung und Begutachtung von transidenten Kindern und Jugendlichen mit Transitionswunsch ist Grundvoraussetzung für die Kostenübernahme seitens der Krankenkassen.
Es ist ein langwieriger Prozess, die Einwilligung der Eltern genügt dafür nicht. „Wir müssen uns sicher sein, dass dieser Wunsch anhält“, sagt Endokrinologe Wüsthof, der eng mit der Spezialambulanz für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie des Hamburger Universitätsklinikums zusammenarbeitet. Weil der Andrang von Eltern mit transidenten Kindern in den letzten Jahren so massiv gestiegen ist, betragen die Wartezeiten von der Kontaktaufnahme bis zur Erstvorstellung bis zu einem Jahr – Zeit, die das Problem oft verschärft.
Mehr als zwei Drittel der geschlechtsdysphorischen Kinder und Jugendlichen, das ergab eine interne Studie der Spezialambulanz, leiden zusätzlich unter psychischen, affektiven oder neurotischen Störungen, 57 Prozent berichteten über selbstverletzendes Verhalten oder über Suizidgedanken und -versuche. „Wir brauchen mehr Anlaufstellen und mehr qualifizierte Gender-Spezialisten“, sagte Pädiater Wüsthof, der gemeinsam mit anderen Fachgesellschaften die neuen Leitlinien für die Behandlung transidenter Kinder und Jugendlicher erarbeitet.
Bislang könne theoretisch jeder Psychologe Gutachten ausstellen – auch ohne besondere Expertise für die Thematik. Die neuen Leitlinien sehen mehr Know-how in der Beurteilung, ein noch höher gewichtetes Selbstbestimmungsrecht und weniger starre Altersgrenzen vor. Bis Ende des Jahres sollen sie vorliegen.Jan ist dann schon 18, er wird im September volljährig. Im Jahr darauf wird er sein Abi in der Tasche haben, ein Jahr früher als seine Zwillingsschwester. Er hat sich, anders als Lena, die ein neunjähriges Gymnasium besucht, für G8 entschieden, um einen Zeitvorsprung für die geschlechtsangleichenden Operationen zu haben, die er vor seinem Studium hinter sich bringen will. Er hat einen sehr präzisen Plan. Und später, sagt Jan, hätte er selbst gerne „eine ganz normale Familie“. So wie seine.
Anlaufstellen für Eltern und deren Kinder
- Elterninitiative Trakine unterstützt und berät Eltern von trans*Kindern und trans*Jugendlichen: www.trans-kinder- netz.de; Kontakt: elternberatung@trans-kinder-netz.de
- Queer Leben: Inter* und Trans* Beratung: Telefon: (030) 233 690 70; www.queer-leben.de
- In & Out Lesbische, schwule, bi, trans*, queere Jugendliche beraten Jugendliche: www.comingout.de