Klaus Fecher tastet über den Rücken eines Schmerzpatienten. Er spürt Verhärtungen in den Faszien auf. Beherzt streicht er über die empfindlichen Punkte, walkt, knetet und massiert. Dass der Patient manchmal vor Schmerz stöhnt, bremst den Orthopäden nicht – im Gegenteil: „Die gezielte Faszienmanipulation ist manchmal etwas schmerzhaft. Aber sie löst Blockaden und fördert so die Heilung“, ist der Aschaffenburger Mediziner überzeugt. Jahrhundertelang unterschätzten Ärzte das Potenzial des Bindegewebes, das immerhin 20 Prozent des Körpervolumens ausmacht. Wie ein Netz durchdringen Faszien den gesamten Körper von den Fußsohlen bis zum Kopf. Sie umhüllen Organe und Nerven, umschließen Muskeln und liegen in deren Innerem um Muskelfaserbündel und jede einzelne Muskelfaser. Große Faszienstränge verbinden Muskeln, Knochen und Gelenke.
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Dass Faszien ein noch größeres Aufgabenrepertoire abdecken, ist eine recht junge Erkenntnis. Vor gut 15 Jahren entdeckten Wissenschaftler im Bindegewebe sechsmal mehr Nervenendigungen als in den Muskeln. Faszien sind damit das größte Sinnesorgan des Menschen. Nur aufgrund ihrer hohen Sensibilität können wir unsere genaue Positionierung im Raum wahrnehmen und Bewegungen koordinieren.
Unser Experte für Physiotherapie
Kay Bartrow, Physiotherapeut und Autor mehrerer Bücher und Fachpublikationen zum Thema FaszienWie Schmerzen in den Faszien entstehen
Leider ist das System fehleranfällig. Wenn es ruckelt, hakt oder Spannungen auftreten, tut es weh. Aus neueren Studien weiß man, dass die Faszien von chronischen Schmerzpatienten anders aussehen als jene von schmerzfreien Menschen. Oft sind sie dicker oder verfilzt und weisen deutlich mehr empfindliche Nervenendigungen auf. Forscher möchten deshalb herausfinden, was genau bei Schmerzen im Bindegewebe passiert. Dabei enthüllen sie immer neue Eigenschaften der Faszien. Physiotherapeuten bekommen durch die Faszienforschung eine wissenschaftliche Erklärung für Behandlungen, die sie seit Langem erfolgreich durchführen, und verbessern diese mit dem neuen Wissen. Für die Fasziengesundheit kann jeder selbst etwas tun, denn Verklebungen im Bindegewebe lässt sich effektiv vorbeugen.
„Schmerzen entstehen, wenn die Faszien Schaden nehmen“, sagt Kay Bartrow, Physiotherapeut und Faszienspezialist. Das kann auf unterschiedliche Art und Weise passieren. Oft, wenn man es am wenigsten erwartet: beim Sitzen. „Unser Körper arbeitet ökonomisch. Was nicht gebraucht wird, rationalisiert er weg“, erklärt Bartrow. Wer acht bis zwölf Stunden pro Tag am Schreibtisch verbringt, büßt nicht nur Muskelmasse und Beweglichkeit ein, auch die Faszien verlieren an Elastizität. Dann reicht schon schnelles Aufstehen, und das feine Bindegewebe reißt ein.
Gleichzeitig baut sich während des Sitzens im Bereich der Lendenwirbelsäule und des Nackens ein hoher Druck auf, der das Bindegewebe komprimiert und Spannungen erzeugt. Betroffene Faszien binden weniger Flüssigkeit. Der dünne Schmierfilm, der normalerweise auf jeder bindegewebigen Schicht sitzt, schwindet. Bei Bewegung reiben die Faszien wie Schmirgelpapier aneinander und schmerzen.
Studien zeigen, dass Faszien allerdings auch unabhängig von Bewegung oder Nichtbewegung verhärten können. Sie reagieren negativ auf Stress, zeigen Laborexperimente des Ulmer Faszienforschers Robert Schleip. Träufelte er das Stresshormon Cortisol auf isoliertes Bindegewebe, zogen sich die Fasern zusammen. Vielleicht wirken Entspannungsübungen bei chronischen Rückenschmerzen deshalb so gut.Darüber hinaus sind Faszien bei fast allen Verletzungen am Bewegungsapparat involviert. Weil sie anders aufgebaut sind als Muskeln, heilen sie auch anders.
Muskelfaszien
Das Bindegewebe regeneriert nur langsam
„Muskeln sind luxusdurchblutet. Faszien besitzen dagegen weniger große und gut verzweigte Blutgefäße“, erklärt Faszienexperte Bartrow. Das ist der Grund, warum Muskeln schneller regenerieren. Nach zwei bis drei Wochen sind sie wieder fit, während das Bindegewebe doppelt so lange benötigt, um zu heilen. „Häufig kommt es zu Komplikationen wie Narbenbildung, weil Patienten ungeduldig sind und sich zu früh wieder belasten“, berichtet Bartrow. Faszien erzeugen bei der Wundheilung zudem mehr sogenannte Cross-Links, quer zur Muskelkraft verlaufende Faserbrücken, die die Reibung erhöhen. Kommt es nicht zur Ausheilung und entsteht eine dauerhafte Entzündung im Gewebe, können sich Schmerzen chronifizieren.
Häufig allerdings spüren Patienten die Schmerzen nicht an der Stelle, an der das Bindegewebe beschädigt ist. Die Netzstruktur des Fasziengewebes bedingt, dass Verletzungen an einer Stelle sich in einem ganz anderen Bereich bemerkbar machen. „Verklebungen an den Füßen können sich bis in den Rücken oder sogar bis zum Kopf auswirken und dort Schmerzen auslösen“, erklärt Bartrow.
Faszien unter dem Elektronenmikroskop
So sieht gesundes im Vergleich zu verfilztem Bindegewebe aus.
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Faszien-Therapie: Heilende Hände gegen die Schmerzen
Noch gibt es keine Diagnose, die verletzte Stellen im Bindegewebe sichtbar macht. „Wir können Verklebungen in den Faszien mittels Sonografie sehen, aber es gibt keine Standardsoftware, die die Bilder auswertet“, sagt Carla Stecco, orthopädische Chirurgin und Faszienforscherin an der Universität im italienischen Padua. Die Bilder müssen aufwendig eingefärbt werden. Ein Verfahren, das bisher nur in der Wissenschaft Anwendung findet.
Ärzte und Physiotherapeuten sind auf ihre Hände angewiesen, um verletzte oder verklebte Stellen in den Faszien ihrer Patienten zu ertasten. „Meist geben Betroffene schon relativ genau an, wo es wehtut und wie der Schmerz ausstrahlt“, berichtet Orthopäde Fecher. Findet er eine erkrankte Stelle, einen sogenannten Triggerpunkt, drückt er fest hinein. „So kann ich verdrehte Faszien wieder in die richtige Position bringen“, erklärt Fecher. Auch erkennt der Körper durch den Druck eine vermeintliche Mangelsituation und schickt mehr Blut an die entsprechende Stelle – und damit mehr Sauerstoff und Nährstoffe.
„Bei der Faszientherapie muss der Patient selbst mitarbeiten“, stellt Orthopäde Fecher klar. Die Behandlung soll vor allem die Beweglichkeit erhöhen, damit der Patient mit gezielten Übungen seine Faszien trainieren kann. „Nur so können Schmerzen dauerhaft verschwinden“, sagt Fecher.
Faszien-Training: Das Bindegewebe fit halten und vorbeugen
Neben der Schmerzlinderung könnte Faszien-Training auch einen präventiven Effekt haben. „Bestimmte Bewegungen helfen besonders gut, das Bindegewebe fit zu halten“, erklärt Physiotherapeut Bartrow. Weil Faszien wie ein verbindendes Element wirken, sind möglichst große Ganzkörperübungen generell gut geeignet, das Bindegewebenetz in Schuss zu halten. Übungen aus Pilates, Yoga oder der guten alten Gymnastik à la Turnvater Jahn versprechen diesen ganzheitlichen Effekt.
Auch das Training mit einer Faszienrolle kann die Elastizität des Bindegewebes verbessern. Dabei rollt der Übende mit einem Körperteil über eine Hartschaumwalze (Übungen Seite 82). Ähnlich einem Nudelholz, das über einen Teig walkt, schiebt er eine kleine Gewebewelle vor sich her. Flüssigkeit im Bindegewebe wird so gleichmäßiger verteilt, verklebte Faszien bekommen wieder mehr Schmiermittel ab. Zusätzlich saugen sich Faszien, aus denen Flüssigkeit herausgedrückt wurde, anschließend besser voll. Die Fasern richten sich ordentlicher aus, ihre Gleitfähigkeit steigt. Mit dem Wasseraustausch transportiert das Gewebe auch Abfallstoffe ab wie entzündungsauslösende Substanzen, die Schmerzen verursachen können.
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Faszien-Training: 7 einfache Übungen zur Stärkung Ihres Bindegewebes
Beweise für die Wirksamkeit des Faszien-Trainings bei Rückenschmerzen gibt es bisher nur aus Tierversuchen. Die amerikanische Faszienforscherin Helene Langevin spritzte Ratten eine entzündungsfördernde Substanz in die große Rückenfaszie. Die Nager verkrampften und bewegten sich kaum noch. Eine Gruppe der Tiere dehnten die Forscher täglich für zehn Minuten. Im Gegensatz zur Kontrollgruppe, die kein Ratten-Yoga erhalten hatte, liefen die behandelten Tiere nach zwei Wochen wieder hochaktiv im Käfig herum. In ihrem Fasziengewebe fanden die Wissenschaftler deutlich weniger Entzündungsstoffe als bei den unbewegten Kontrolltieren. Wie hoch der Anteil der Rücken- und Nackenschmerzpatienten ist, die von einer Faszientherapie profitieren würden, ist noch unklar.
Carla Stecco möchte die molekularen Grundlagen des Bindegewebes besser verstehen, um spezifischere Behandlungen zu entwickeln. „Faszien sind komplexer aufgebaut, als wir bisher dachten“, so die Wissenschaftlerin. Im letzten Jahr entdeckte sie einen neuen Bindegewebe-Zelltyp, der wichtig für das Gleiten der Faszien ist. Auch Andockstellen für Cannabinoide und für weibliche Geschlechtshormone wie Östrogen fand Stecco in den Faszien. Eine mögliche Erklärung, warum manche Frauen während ihrer Periode Rückenschmerzen plagen. Und vielleicht die Möglichkeit, in der Zukunft Medikamente gegen Faszienschmerzen zu entwickeln. Noch stehen die Wissenschaftler am Anfang ihrer Entdeckungsreise. Eines steht jedoch bereits fest: Wer seine Faszien gesund halten möchte, sollte sich bewegen.
Dies ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in FOCUS-GESUNDHEIT „Schmerzfrei bewegen" – als Print-Heft oder als digitale Ausgabe.
Faszien: So bleibt das Bindegewebe gesund (Unser Podcast für ein gutes Körpergefühl – Folge #13)
Zu Gast im Podcast:
Dr. Robert Schleip, Humanbiologe an der Fakultät für Sport- und Gesundheitswissenschaften der Technische Universität München und Pionier der FaszienforschungWie beweglich wir sind, hängt stark von unseren Faszien ab. Das sind bindegewebige Strukturen, die unseren Körper durchdringen wie ein Netz und jede einzelne Muskelfaser umhüllen.
Wir finden heraus, wie wir unser Fasziengewebe geschmeidig halten und somit schmerzfrei und beweglich bleiben oder wie wir durch Faszientraining bessere Leistungen beim Sport erbringen. Wieso wir uns ein Beispiel an Schimpansen nehmen sollten und was Purzelbäume mit Fasziengesundheit zu tun haben, erfahrt ihr in dieser Folge.