„Ein Sekt zum Anstoßen kann ja nicht so schlimm sein“, denken viele und greifen auch während der Schwangerschaft zum Glas. Warum schon kleine Mengen Alkohol für das Ungeborene schädlich sind und aus welchen Gründen werdende Mütter dennoch trinken, erklärt Kinder- und Jugendärztin Mirjam Landgraf.
Unsere Expertin für Kinderneurologie
Mirjam Landgraf, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin mit Schwerpunkt Kinderneurologie, sowie Diplompsychologin. Sie leitet die sogenannte TESS-Ambulanz im iSPZ Hauner des Dr. von Haunerschen Kinderspitals in München und das Deutsche FASD Kompetenzzentrum Bayern. Dort finden zukünftige Eltern sowie Kinder, die im Mutterleib Alkohol, Drogen oder Medikamenten ausgesetzt waren und ihre Familien eine Anlaufstelle.89 Prozent der Befragten einer Forsa-Umfrage glauben, dass Alkohol in der Schwangerschaft problematisch für das ungeborene Kind ist. Die Realität sieht jedoch anders aus. Laut der Studie „Gesundheit in Deutschland Aktuell“ (GEDA) haben etwa 20 Prozent der schwangeren Frauen einen moderaten und circa acht Prozent einen riskanten Alkoholkonsum. Zwölf Prozent der Teilnehmerinnen gaben an, einmal pro Monat fünf oder mehr alkoholische Getränke zu trinken. Möglicherweise mit dramatischen Folgen für die Kinder, die ein Leben lang bestehen bleiben.
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Wenn Ungeborene im Mutterleib Alkohol ausgesetzt sind, können selbst geringe Mengen zu körperlichen und geistigen Behinderungen führen. Diese Beeinträchtigungen bezeichnen Experten als Fetale Alkoholspektrumstörung, kurz FASD.
Es gibt unterschiedliche Ausprägungen der Erkrankung: Schätzungsweise acht von 1.000 geborenen Kindern leiden am Vollbild, dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS). Sie haben verschiedene körperliche und geistige Beeinträchtigungen. Der Alkohol verhindert, dass sich ihr Körper im Mutterleib normal entwickelt. Sie sind zu klein, zu leicht, haben Auffälligkeiten im Gesicht wie kurze Lidspalten, verstrichene Falten zwischen Mund und Nase und eine schmale Oberlippe.
Die alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung (ARND), die ebenfalls durch Alkoholkonsum in der Schwangerschaft verursacht wird, ist nicht sichtbar. Erkrankte wirken normal, haben dennoch neurologische Schäden davongetragen.
Mirjam Landgraf ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin mit Schwerpunkt Kinderneurologie, und Psychologin am Haunerschen Kinderspital in München. Dort leitet sie die TESS-Ambulanz und das Deutsche FASD Kompetenzzentrum Bayern, eine spezielle Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche mit FASD und deren Familien. Sie möchte ein Bewusstsein für die Krankheit schaffen, damit möglichst wenige Schwangere Alkohol trinken und erkrankte Kinder frühzeitig eine korrekte Diagnose und eine entsprechende Therapie bekommen. Im Interview beantwortet sie die wichtigsten Fragen zum Thema.
Frau Landgraf, Schätzungen zufolge kommen ein bis zwei Prozent aller Babys mit einer Fetalen Alkoholspektrumstörung zur Welt. Das sind nicht besonders viele, oder?
Doch! FASD ist die häufigste bei Geburt bestehende, chronische Erkrankung. Beispielsweise häufiger als Trisomie 21. Warum nicht alle Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft getrunken haben, eine FASD bekommen, wissen wir nicht. Es gibt verschiedene Einflussfaktoren, die bewirken, dass ein Kind tatsächlich erkrankt, etwa das Alter der Mutter oder ihr genetischer Hintergrund.
Wie äußert sich FASD bei den betroffenen Kindern im Alltag?
Sie sind meistens durchschnittlich intelligent und oft sehr eloquent. Mit den alltäglichsten Dingen tun sie sich aber schwer. Sie verstehen beispielsweise Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge nicht. Sie können sich nicht vorstellen, dass sie ihrem geliebten Haustier schaden, wenn sie es gegen die Wand schleudern. Auch mit der Planung und Durchführung von Tätigkeiten haben sie Probleme. Ihnen ist nicht klar, dass man sich vor der Dusche auszieht, sich dann abbraust, einseift und schließlich nach dem Abtrocknen in frische Klamotten steigt. Kinder mit FASD gehen voller Schaum aus der Dusche und ziehen sich an. Deshalb können Menschen mit FASD häufig kein eigenständiges Leben führen und sind auch im Erwachsenenalter noch auf Unterstützung angewiesen.
Was würden Sie einer schwangeren Frau sagen, die bis zur 24. Woche Alkohol getrunken hat – wird ihr Baby an FASD erkranken?
Ich würde ihr zuerst raten, sofort mit dem Trinken aufzuhören, dann vermindert sich das Krankheitsrisiko. Ob ihr Kind Schäden davongetragen hat, welche und in welchem Ausmaß, kann ich ihr nicht beantworten. Aber man muss leider davon ausgehen, wenn die Mutter immer wieder größere Mengen getrunken hat.
Gibt es eine unbedenkliche Trinkmenge in der Schwangerschaft?
Nein, die gibt es nicht. Es führt zwar nicht jeder Alkoholkonsum dazu, dass das Kind erkrankt, aber wir wissen nicht, welche Menge dem Fötus schadet und welche nicht. Dazu gibt es keine gesicherten, wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die weltweite Empfehlung ist: Vollständige Alkoholabstinenz in der Schwangerschaft!
Was passiert mit dem ungeborenen Kind, wenn die Mutter trinkt?
Der Alkohol geht ins mütterliche Blut und gelangt direkt, ungefiltert über die Plazenta in den kindlichen Blutkreislauf. So steigt der Alkoholgehalt in dessen Blut auf das Niveau der Mutter an. Der Fötus baut ihn aber viel langsamer ab, weil seine Leber noch unreif ist. Er bleibt vier- bis zehnmal länger im Körper des Fötus.
Wann ist es besonders schädlich in der Schwangerschaft zu trinken?
Es gibt keinen guten Zeitpunkt für Alkohol in der Schwangerschaft, der ungefährlich für das Kind wäre. Im ersten und zweiten Trimester bilden sich die inneren Organe aus. Wenn eine werdende Mutter dann sehr viel trinkt, kann es zu Fehlbildungen kommen. Das Hauptproblem bei Kindern mit FASD ist aber, dass sie eine alkoholtoxische Gehirnschädigung bekommen. Das Gehirn entwickelt sich während der gesamten Schwangerschaft. Somit wirkt sich Alkoholkonsum der werdenden Mutter zu jedem Zeitpunkt schädlich darauf aus.
Auch im letzten Drittel?
Ja. Im letzten Schwangerschaftsdrittel passiert die Vernetzung im Gehirn. Trinkt die Mutter während dieser Phase Alkohol, sind die Netzwerke ausgedünnt oder es gibt zwar Verbindungen, aber dort wo bei normal entwickelten Kindern eine Autobahn wäre, verläuft bei Kindern mit FASD nur ein Schotterweg.
Wie muss man sich die Mutter eines Patienten mit FASD vorstellen?
Alkohol trinken schwangere Frauen in allen gesellschaftlichen Schichten. Besonders häufig sind es aber laut Studien die gutsituierten Frauen über 30.
Warum ist es Ihnen wichtig, werdende Mütter die trinken, nicht zu stigmatisieren?
Weil der Großteil der deutschen Gesellschaft Alkohol trinkt. Und es viele verschiedene Gründe gibt, warum werdende Mütter trinken. Wir Ärzte sollten nicht mit erhobenem Zeigefinger mit den Müttern sprechen, sondern auf Augenhöhe. Nur dann können wir Vertrauen aufbauen und bekommen verlässliche Rückmeldungen, ob das Kind in der Schwangerschaft Alkohol ausgesetzt war. Das hilft uns bei Diagnose und Therapieplanung weiter.
Ist es ein Problem, dass Alkohol in unserer Gesellschaft so selbstverständlich dazugehört?
Ja. Auch Schwangere müssen sich oft für ihren Alkoholverzicht erklären oder entschuldigen. Viele denken dann: „Das eine Gläschen kann ja nicht so schlimm sein.“ Manchmal sind es auch die Umstände, die Frauen dazu motivieren, während der Schwangerschaft zum Glas zu greifen. Denken Sie zum Beispiel an eine Frau, die einen Brotzeitstand hat und regelmäßig mit der Kundschaft trinkt. Würde sie plötzlich aufhören, wäre das schlecht für das Geschäft. Oder eine junge Frau, die auf dem Land lebt und jedes Wochenende in die Dorfkneipe geht. Um ihre vielleicht ungewollte Schwangerschaft zu verheimlichen und nicht angepöbelt zu werden, trinkt sie weiter.
Was ist wichtig für Kinder mit FASD?
Es gibt kein Medikament, das die Krankheit heilen kann. Die Probleme bestehen ein Leben lang. Dennoch kann Menschen mit FASD geholfen werden, durch eine frühzeitige, korrekte Diagnose, adäquate Förderung, ein stabiles Umfeld und Gewaltfreiheit.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Werdende Mütter sollten genau wissen, wie schädlich Alkohol ist. Hilfsangebote für Frauen, die aufhören wollen zu trinken, müssen für alle verfügbar sein. Und es ist wichtig, dass es sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene in ganz Deutschland Anlaufstellen gibt, in denen Experten eine genaue Diagnose stellen können und wo die Menschen mit FASD zusätzlich intensive Unterstützung und eine Koordination der Hilfen erfahren. Ein erster Schritt wurde mit dem Deutschen FASD Kompetenzzentrum Bayern in München gegangen.
Anlaufstellen in Ihrer Region finden Sie hier:
Weitere Infos zum Thema Alkohol in der Schwangerschaft:
Quellen
- Landgraf M N et al.: Diagnose des Fetalen Alkoholsyndroms; 2013; Deutsches Ärzteblatt; DOI: 10.3238/arztebl.2013.0703
- Online-Informationen Bundesministerium für Gesundheit. Forsa-Umfrage zum Thema Alkohol und Schwangerschaft: www.bundesgesundheitsministerium.de; Abruf: 18.02.2021
- Online-Informationen Bundesministerium für Gesundheit. Die Fetale Alkoholspektrumstörung: www.bundesgesundheitsministerium.de; Abruf: 18.02.2021
- Online-Informationen Bundesministerium für Gesundheit. Zusammenfassung der S3-Leitlinien-Empfehlungen (Stand 2016) zur Diagnose der Fetalen Alkoholspektrumstörungen in einem „Pocket Guide FASD“: www.klinikum.uni-muenchen.de; Abruf: 18.02.2021
- Online-Informationen Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V.: www.kinderaerzte-im-netz.de; Abruf: 18.02.2021