Mal fliegen einem die Ideen nur so zu, im nächsten Moment herrscht plötzlich Windstille im Oberstübchen. Bei all der erstaunlichen Leistung, die das Denkorgan tagtäglich erbringt, zeigt es mitunter erstaunliche Aussetzer. Mit einem Mal kappt die kognitive Leitzentrale den Gedankenstrom, verschickt falsche Handlungsanweisungen oder fällt auf törichte Denkmuster rein. Experten erklären, was hinter kognitiven Alltagsphänomenen steckt und wie sich ihnen begegnen lässt.
Zungenspitzen-Phänomen
„Ich weiß doch eigentlich, wie sie heißt!“
Gestern war der Name der Nachbarin noch da, heute kommt er nicht über die Lippen. Das „Es liegt mir auf der Zunge“-Phänomen beschreibt die Unfähigkeit, ein eigentlich bekanntes Wort aus dem Gedächtnis abzurufen.
Wie kommt es dazu?
Bei diesem Phänomen hakt die Synchronisierung zwischen den Hirnarealen, erklärt der promovierte Neurowissenschaftler, Coach und Autor Henning Beck. „Ich weiß, ich möchte etwas Bestimmtes sagen – aber das Wort wurde in der geistigen Informationsfülle noch gar nicht gefunden.“
Grund zur Sorge?
„Das passiert uns allen mal“, beruhigt Beck. „Und es hat nichts mit Vergesslichkeit zu tun. Der Begriff ist ja eigentlich da.“ Er fliegt in dem Moment bloß unterm Radar.
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Türrahmen-Effekt
„Nur Leerlauf in der Leitzentrale.“
Keine Regung im Gehirn. Nicht ein halbwegs frischer Gedanke will einem einfallen. Hirnkenner Beck weiß, wie man den Ideenreichtum anstößt: „Gehen Sie einfach durch eine Tür. Der Schritt in eine andere Umgebung regt die Kreativität an.“
Wie kommt es dazu?
Der Türrahmen-Effekt basiert auf der Art und Weise, wie das Gehirn Informationen verarbeitet: „Wir denken nicht statisch“, erklärt Beck. „Ein Raumwechsel geht immer mit einer neuen Erwartungshaltung an die Umwelt einher.“ Wenn sich die äußeren Bedingungen ändern, fokussiert sich das Gehirn auf die veränderte Situation und generiert neuen Schwung. Bleibt die zündende Idee im Büro also aus – auf zur Kaffeemaschine in der Küche!
Was hilft nicht?
Umgekehrt kann der Gang über die Türschwelle aber auch die ursprüngliche Intention aus dem Gedächtnis fegen. „Dasselbe Prinzip – in einer neuen Umgebung bleibt das Alte zurück“, erklärt der Forscher. Aktiv zurückholen lässt sich der Einfall leider nicht. Manchmal kehrt die Erinnerung aber von selbst wieder.
Grund zur Sorge?
Gar nicht. „Der Türrahmen-Effekt hat nichts mit Vergesslichkeit zu tun“, beschwichtigt Beck. Er bewertet den spontanen Gedankenwechsel sogar als geistige Stärke: „Wenn der Mensch überall im selben Konzept denken würde, wäre er nicht anpassungsfähig.“
Kognitive Dissonanz
„Ich brauche kein schlechtes Gewissen zu haben ... oder?“
Zigaretten und Alkohol schaden der Gesundheit. Dennoch trinken die Deutschen pro Jahr durchschnittlich 10,7 Liter Reinalkohol (Stand 2018), jeder vierte Erwachsene raucht. Wider besseres Wissen und gegen alle Vernunft.
Wie kommt es dazu?
„Um so einen Widerspruch zu verstehen, muss man sich mit dem Begriff der kognitiven Dissonanz vertraut machen“, sagt Hans-Peter Erb, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Hamburg. „Diese liegt vor, wenn Gedanken sich widersprechen und so eine innere Anspannung entsteht“, erklärt er. „Weil wir alle nach Balance in unserem Denken streben, versuchen wir, die Dissonanz aufzulösen.“ Eine Möglichkeit wäre natürlich, das Rauchen aufzugeben – was bei einer Sucht nicht leichtfällt. Stattdessen werde oft ein ausgleichender Gedanke hinzugefügt, so Erb. Ein Raucher sagt sich zum Beispiel: „Helmut Schmidts Markenzeichen war die Zigarette, und er lebte trotzdem 96 Jahre lang.“
Was hilft?
„Die kognitive Dissonanz ist per se nichts Schlechtes. Sie treibt uns an, unser Denken und Handeln zu überprüfen“, meint der Sozialpsychologe. Wer in einem moralischen Zwiespalt steckt, kann sich aber fragen: „Wäge ich gerade rationale Gründe ab oder versuche ich, anderweitig auszuweichen?“
FOCUS-GESUNDHEIT 05/21
Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in der Ausgabe Gehirn und Nerven von FOCUS-GESUNDHEIT. Weitere Themen: Neue Antikörper-Therapien gegen Migräne. Parkinson könnte bald heilbar sein. U.v. m.Zum E-Paper-Shop
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Dunning-Kruger-Effekt
„Ich weiß es ganz eindeutig am besten.“
Ein Problem nur oberflächlich betrachten und trotzdem überzeugt eine Lösung präsentieren: Bei so einem Verhalten spricht der Volksmund von Selbstüberschätzung – Experten vom Dunning-Kruger-Effekt. Namensgeber der Theorie sind zwei amerikanische Sozialpsychologen.
Wie kommt es dazu?
„Um einzuschätzen, wie aussagekräftig die persönliche Meinung ist, muss man das eigene Denken überdenken“, erklärt Experte Hans-Peter Erb. Nicht jedem gelinge das so einfach. „Wenn jemand die Lösung für ein Problem parat hat, sollte er prüfen, ob er alle wichtigen Informationen beachtet und verlässliche Quellen zurate gezogen hat“, meint der Sozialpsychologe. So erkennt man die Grenzen der eigenen Kompetenz. Ein ausgebildeter Experte weiß etwa, wie komplex medizinische Themen sind, und ist mit seinen Angaben viel verhaltener.
Was hilft?
Wer den Verdacht hegt, der Gesprächspartner unterliege dem Dunning-Kruger-Effekt, sollte nach Fakten und Quellen fragen. So lässt sich die Qualität der Aussagen einordnen.
Blackout
Wie kommt es dazu?
„Den Aussetzer nennt man in der Wissenschaft auch Übererregungsfalle“, so Hirnforscher Henning Beck. In Stressmomenten schüttet der Körper Botenstoffe aus, deren eigentlicher Zweck darin besteht, die Wahrnehmung zu schärfen. „Diese Fokussierung ist beim Blackout überaktiv – nicht nur Unwichtiges wird aussortiert, sondern auch die benötigten Informationen“, meint der Experte.
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Déjà-vu
„Das kommt mir alles so vertraut vor.“
Wir alle kennen den Moment, wenn ein Dialog oder eine Szene plötzlich so vertraut wirkt, als habe jemand auf die Repeat-Taste gedrückt. „Das habe ich doch schon mal erlebt!“, schießt es einem dann durch den Kopf.
Wie kommt es dazu?
Ist das merkwürdige Phänomen ein Indiz für wahrsagerische Kräfte? „Nein“, meint Neurowissenschaftler Beck. „Auch hier kommt es ganz einfach zu einer durcheinandergeratenen Vernetzung.“ Das Bewusstwerden über eine Situation verarbeitet das Gehirn einen Hauch später als das Gefühl der Vertrautheit für einen Moment. „So denken wir, wir kennen die Situation bereits, bevor wir sie überhaupt bewusst wahrgenommen haben.“
Was hilft?
Verhindern lässt sich das Déjà-vu nicht. Und es birgt ja auch keine Gefahr. Immerhin: Wer den Mechanismus dahinter kennt, verliert die Angst vor übernatürlichen Einflüssen.
Ironischer Fehler
„Ups, das war nicht meine Absicht.“
Beim Elfmetertraining fliegen dem Stürmer die Treffer nur so zu. Jeder Schuss sitzt perfekt, und er ist sich sicher: Beim nächsten Spiel wird er glänzen. Doch im entscheidenden Moment trifft der Torschütze den Pfosten.
Wie kommt es dazu?
Neuroforscher Beck hat eine mögliche Erklärung parat: „Beim sogenannten ironischen Fehler funktioniert die kognitive Filterstation nicht mehr.“ In jeder Situation stehen im Kopf verschiedene Handlungsoptionen zur Verfügung. „Unter Anspannung schaltet sich mitunter die falsche dazwischen, und man tut etwas, das man gar nicht beabsichtigte.“
Was hilft?
Der Hirnexperte rät zu Prognosetraining: „Dabei spielt man bevorstehende Belastungsproben unter möglichst realistischen Bedingungen durch.“ Heißt: Der Spieler übt Elfmeterschießen, wenn Zuschauer da sind, die ihn ausbuhen. Oder man stellt die bevorstehende Präsentation dem Partner vor – in einem Durchlauf ohne zweiten Ansatz bei Versprechern. Das verhilft zu mehr Gelassenheit.
Grund zur Sorge?
Wie beim Blackout könnte es sich hier um eine Form der Prüfungsangst handeln, die bei hohem Leidensdruck psychotherapeutischer Behandlung bedarf.
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Ohrwurm
„Das Lied geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf!“
Ob „YMCA“ oder „Don’t Worry, Be Happy“ – manche Lieder haben das Potenzial, sich ins Gedächtnis zu fräsen und für Stunden oder ganze Tage im Kopf umherzuschwirren.
Wie kommt es dazu?
Laut Beck handelt es sich hierbei um ein mentales Echo: „Die Hirnbereiche, die ein Lied kognitiv erzeugen, vernetzen sich immer wieder mit jenen, die Musik verarbeiten.“ Und: Die Heschl’sche Querwindung, Teil der Hörrinde am Schläfenlappen, kommt ihrer Aufgabe nicht nach, wie Hirnscans von Ohrwurm-Geplagten nahelegen. „Das Areal schaltet sich normalerweise bei einer musikalischen Dauerschleife dazwischen. Beim Ohrwurm scheint es seinen Einsatz zu verschlafen“, so der Neurowissenschaftler.
Was hilft?
Kaugummikauen. „Die Hirnwindungen, die den Ohrwurm erzeugen, steuern auch die Kiefermuskeln und bekommen durch das Kauen eine neue Aufgabe“, erklärt Beck. Dann herrscht endlich Stille im Gehirn – aber gewollte.