Die Corona-Pandemie stellt Krankenhäuser vor völlig neue Herausforderungen. Mit allen Mitteln soll verhindert werden, dass auch deutsche Kliniken in einen Versorgungsnotstand geraten, in dem sie nicht mehr alle Patienten optimal behandeln können, wie das etwa in Italien passierte. „Heute sind wir noch nicht an der Kapazitätsgrenze“, sagt Jochen Werner, Ärztlicher Direktor am Universitätsklinikum Essen. Uns hat er erklärt, wie man sich in der Klinik mitten im Ballungsraum Ruhrgebiet unter Hochdruck für den Ernstfall wappnet.
Jochen Werner, 61
Der Humanmediziner habilitierte im Fachbereich HNO-Heilkunde und ist seit 2015 ist er Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender am Universitätsklinikum Essen
Sind in Deutschland ähnlich dramatische Zustände wie in Spanien, Italien und USA noch zu erwarten?
Ich hoffe, dass wir die enorme Belastung gut durchstehen. Wie extrem die Situation hier in Deutschland wird, kann keiner seriös beantworten. Ich rechne aber hier bei uns im Ruhrgebiet mit einer kontinuierlichen Zunahme an Patienten in den nächsten Wochen. Wann die Patientenzahlen einen Höhepunkt erreichen werden, das kann ich nicht sagen, aber ich gehe davon aus, dass sicherlich noch für drei oder vier Wochen immer mehr Menschen, die sich mit COVID-19 infiziert haben, zu uns kommen. Das liegt auch daran, dass wir und in der Region als COVID -19-Zentrum für relevant erkrankte Patienten verstehen, die hier besser versorgt werden können, als in anderen, kleineren Krankenhäusern.
Aktuell wirken die Bilder aus deutschen Kliniken sehr geordnet. Manche Krankenhäuser können sogar noch Patienten aus dem Ausland behandeln. Warum ist die Lage dennoch nicht entspannt?
Die älteren Menschen sind besonders gefährdet, einen schweren Infektionsverlauf zu bekommen. Wenn jetzt immer mehr Senioren aus Pflegeheimen zu uns kommen, dann wird ein größerer Teil von ihnen auch beatmet werden müssen. Je nach Verlauf bleiben sie mehrere Wochen in einem Intensivbett liegen. Parallel müssen wir aber unseren normalen Krankenhausbetrieb aufrechterhalten. Manche Eingriffe können wir verschieben, aber einen Darmkrebspatienten müssen und wollen wir trotz der Pandemie ganz normal versorgen. Und je angespannter die Situation im Krankenhaus wird, desto größer ist das Risiko, dass sich Mitarbeiter mit dem Coronavirus infizieren. Dann müssen wir sie in Quarantäne schicken, während der normale Betrieb weiterläuft. Es besteht also das Risiko eines Personalmangels, was sich auf die Arbeitsqualität auswirken kann. Wenn Ärzte und Pfleger unter Druck stehen oder abgelenkt sind, machen sie Fehler, das weiß man aus Fehleranalysen in der Luftfahrt, die wieder zu neuen Ansteckungen führen können. Das sind enorme Belastungen für eine Klinik und dies wiederum kann dazu führen, dass sich die aktuell noch entspannt anmutende Lage rasch verschlechtert. Aber um auch mal einen Blick hinter die Kulissen zu erlauben: Wirklich entspannt ist angesichts der aktuellen Situation niemand im Krankenhaus. Aber wir sitzen noch im Fahrersitz.
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Wie viele COVID-19-Patienten behandeln Sie derzeit am Universitätsklinikum Essen?
65 COVID-19-Patienten liegen aktuell stationär bei uns. 21 davon müssen wir künstlich beatmen.
Wie viele könnten Sie versorgen?
Wir haben 300 bis 400 Betten für COVID-19-Patienten reserviert. 265 der Betten sind mit Beatmungsgeräten ausgestattet. Im Falle einer Eskalation könnten wir noch weiter aufstocken.
Wie lange müssen COVID-19-Patienten beatmet werden?
Das ist ganz unterschiedlich und hängt vom Krankheitsverlauf ab. Manche müssen nur wenige Tage beatmet werden, andere mehrere Wochen. Aber wir dürfen das Beatmungsgerät nicht plötzlich abschalten. Die Patienten müssen sich erst langsam wieder daran gewöhnen, selbstständig zu atmen, was durchaus mehrere Tage oder länger dauern kann. Das bedeutet, dass ein Intensivbett mit Beatmungsgerät nicht immer von jetzt auf gleich für den nächsten Patienten zur Verfügung steht.
Wie hat sich das Uniklinikum Essen bisher auf plötzlich ansteigende Patientenzahlen vorbereitet?
Wir haben zunächst alle Operationen und Behandlungen abgesagt, die nicht zwingend notwendig sind. Wenn ein Patient beispielsweise einen Termin für eine Hüftoperation hatte, dann mussten wir den Eingriff verschieben. Das heißt aber nicht, dass grundsätzlich nur noch lebensrettende Maßnahmen stattfinden. Beim Beispiel der Hüftendoprothese zu bleiben: Hat der Patient starke Schmerzen, können wir ihn nicht endlos warten lassen. Grundsätzlich gilt bei uns die Regel, dass wir Patienten operativ versorgen, die von potentiell vital bedrohlichen Erkrankungen betroffen sind. Grenzfälle werden jeden Morgen in einer Gruppe von Ärzten bei uns diskutiert.
Was erreichen Sie mit dem Aufschieben nicht-akuter Eingriffe?
Wir konnten zusätzliche freie Betten für COVID-19-Patienten schaffen. Außerdem haben wir unser Krankenhaus in einen COVID-Bereich und einen nicht-COVID-Bereich unterteilt. Das heißt, wir mussten Patienten mit anderen ansteckenden Krankheiten innerhalb des Krankenhauses verlegen. Auch auf der Intensivstation haben wir dafür gesorgt, dass COVID-19-Kranke abgetrennt von anderen Schwerkranken liegen, die ebenfalls intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Für die Notaufnahme, unsere Infektionsbetten und Beatmungsplätze haben wir unsere Mitarbeiter speziell geschult. So konnten sich in der Universitätsmedizin Essen Ärzte aus anderen Fachbereichen, beispielsweise Hautärzte oder HNO-Ärzte, freiwillig melden, um im COVID-Bereich zu arbeiten. Mittlerweile haben sich die Kollegen schon sehr gut in die bestehenden Teams integriert.
Welche Vorteile hat das deutsche Gesundheitssystem gegenüber anderen Ländern?
Das medizinische Personal ist in Deutschland sehr gut ausgebildet und wir haben so viele Intensivbetten, wie kein anderes Land. Auf der anderen Seite haben wir einen Pflegenotstand in Deutschland. Das kann ein großes Problem werden, falls wir Mitarbeiter in Quarantäne schicken müssen, weil sie sich mit COVID-19 angesteckt haben oder unter Verdacht stehen. Den Fachkräftemangel dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, er ist ein allgegenwärtiges Thema.
Wie gut sind Sie mit Schutzausrüstung und Atemmasken ausgestattet?
Aktuell haben wir in der Universitätsmedizin Essen genug Ausrüstung für mehrere Wochen im Voraus. Doch wenn deutlich mehr Patienten kommen, erhöht sich natürlich auch der Materialverbrauch bei uns. Müssen wir in zwei Wochen statt 65 Patienten 120 behandeln, reichen Schutzmasken und Kittel nicht so lange wie geplant.
Infektionskrankheiten zu behandeln, ist aufgrund der Ansteckungsgefahr besonders problematisch. Welche Schutzmaßnahmen treffen Sie für das Personal?
Bei uns müssen alle Mitarbeiter einen Mund-Nasen-Schutz tragen, sobald sie mit anderen Menschen in Kontakt kommen. Nur wenn jemand in seinem Einzelbüro sitzt, kann er die Schutzmaske abnehmen. Sobald er den Flur betritt, soll er sie tragen, um das Infektions-Risiko zu reduzieren. Wenn Ärzte oder Pflegekräfte in das Zimmer eines infizierten Patienten oder eines COVID-19-Verdachtsfalles gehen, tragen sie spezielle Masken (sogenannte FFP2 und FFP3 Masken). Zusätzlich benötigen die Kollegen eine Schutzbrille oder ein sogenanntes Face Shield, das das ganze Gesicht abdeckt, und einen Kittel. Der Infektionsweg über die Bindehaut des Auges darf keinesfalls unterschätzt werden. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen kann es passieren, dass sich Personal ansteckt. Einen solchen Fall teilen wir sofort der Krankenhaushygiene-Abteilung mit. Diese tritt mit dem Gesundheitsamt in Kontakt und bespricht das weitere Vorgehen.