Infarkt im Gehirn
Patricia Schaffler rückt ihren Stuhl näher an die Tischkante und fragt ein zweites Mal nach: „Herr Maiwald, wer auf den Bildern hier packt einen Koffer?“ Markus Maiwald (Name von der Rredaktion geändert), ein großer, sportlicher Mann, der zu T-Shirt und bequemer Hose Turnschuhe trägt, muss überlegen. Konzentriert betrachtet er die Fotos, deutet mit dem Finger auf eines und fragt sich leise: „Der?“
Nach einem Moment des Zögerns korrigiert er sich, wählt ein anderes Bild und strahlt: „Ah, der!“ Patricia Schaffler lächelt zurück: „Genau, sie packt den Koffer. Jetzt zeigen Sie mir das nächste Bild: Wer putzt die Nase?“ Diesmal ist Maiwald schnell: „Ah, der!“, sagt er und zeigt entschlossen auf das richtige Foto. „Hat er vielleicht Schnupfen?“, fragt Patricia Schaffler. Markus Maiwald, 50 Jahre alt, muss lachen: „Ja, ja.“
Ein Mensch gibt täglich im Schnitt 16.000 Wörter von sich. Bei Maiwald sind es gerade deutlich weniger. Vor sechs Wochen erlitt der Unternehmer einen Schlaganfall. Neben einer Lähmung der rechten Körperseite verursachte der Infarkt im Gehirn eine schwere Sprachstörung. Als das erste Mal eine Logopädin an sein Krankenbett trat, brachte Maiwald keinen Mucks heraus – er konnte seine Stimmbänder nicht ansteuern. Jetzt, sechs Wochen später, befindet er sich in der Schön Klinik München Schwabing zur Reha. Dank täglicher Sprachtherapie hat er enorme Fortschritte gemacht.Ein Schlaganfall ist für 80 Prozent der Aphasien, wie Fachleute eine Sprachstörung nach Hirnschädigung nennen, verantwortlich. „Aphasie“ bedeutet „Sprachlosigkeit“. Sie entsteht, wenn das Sprachzentrum Schaden nimmt und alle vier Säulen des lingualen Systems beeinträchtigt sind: Die Betroffenen haben Schwierigkeiten, Gehörtes und Gelesenes zu verstehen, Gedanken auszusprechen und sie aufzuschreiben.
In Deutschland sind schätzungsweise 70.000 Menschen betroffen. Therapie hilft ihnen, wieder Wörter zu finden. Zuerst im Krankenhaus, dann in der Reha, später zu Hause. Obwohl es manchmal schleppend vorangeht. Neuere Studien belegen, dass sogar nach Jahren noch Verbesserungen zu erwarten sind, wenn professionelle Therapeuten das zuständige Zentrum im Gehirn immer wieder aktivieren.
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Aphasie: Selbst einfache Worte sind schwierig
Viel Material braucht es nicht für eine Dreiviertelstunde Behandlung: Auf dem Tisch zwischen Maiwald und der Sprach- und Heilpädagogin Schaffler liegen vier Fotos, Zettel, ein Kugelschreiber, ein Bleistift und eine flache Metallschachtel mit Holzbuchstaben wie aus einem Scrabble-Spiel. Maiwald hat eine Wasserflasche neben den Tisch gestellt, als wisse er schon, wie anstrengend der Vormittag für ihn wird. Auf dem Stuhl neben ihm hat seine Lebensgefährtin Beate Mendel (Name von der Rredaktion geändert) Platz genommen, die heute mit dabei sein möchte. „Wohin die Reise geht, kann uns niemand sagen, aber bisher macht er jeden Tag Fortschritte“, sagt sie.
Für Mendel und die anderen Angehörigen ist die Situation eine Belastung, doch die 50-Jährige ist optimistisch: „Es ist eine Frage der Geduld. Die Zeit, die er braucht, nehmen wir uns jetzt.“ Ändern könne sie die Situation ohnehin nicht. „Also akzeptieren wir sie, wie sie ist, und lernen, damit umzugehen. Das kriegen wir schon hin.“ Therapeutin Schaffler hat Sonderpädagogik, Psychologie und Psycholinguistik studiert.
Sie schreibt schlichte Wortfolgen auf drei kleine Zettel: „isst einen Apfel“, „packt den Koffer“, „zählt Geld“. Ihr Patient soll das Geschriebene lesen, die Substantive verstehen und den Bildern zuordnen. Geld, Apfel, Koffer – Maiwald legt alle Zettel zügig auf die richtigen Fotos. Damit die Aufgabe mit dem letzten Bild nicht zu einfach wird, schiebt Schaffler ihm nun zwei Zettel über den Tisch: „putzt die Nase“, steht auf dem einen, „putzt das Fenster“ auf dem anderen. Maiwald wählt den falschen.
Fast jeder dritte Schlaganfall geht mit einer Sprachstörung einher. Die ist nicht zu verwechseln mit einer Sprechstörung. Letztere liegt vor, wenn nicht das Sprachzentrum im Gehirn, sondern die Motorik von Zunge und Lippen beeinträchtigt ist. „Sprachstörungen sind weitaus komplexer“, sagt Jürgen Herzog, Chefarzt der Abteilung für neurologische Rehabilitation und Frührehabilitation an der Schön Klinik München Schwabing: „Menschen mit Aphasie haben die Wörter oft klar im Kopf, bringen sie aber nicht heraus.
Fast jeder dritte Schlaganfall geht mit einer Sprachstörung einher. Die ist nicht zu verwechseln mit einer Sprechstörung. Letztere liegt vor, wenn nicht das Sprachzentrum im Gehirn, sondern die Motorik von Zunge und Lippen beeinträchtigt ist. „Sprachstörungen sind weitaus komplexer“, sagt Jürgen Herzog, Chefarzt der Abteilung für neurologische Rehabilitation und Frührehabilitation an der Schön Klinik München Schwabing: „Menschen mit Aphasie haben die Wörter oft klar im Kopf, bringen sie aber nicht heraus.
Vier Formen der Aphasie
Amnestische Aphasie
Leichteste Form mit Benenn- und Wortfindungsstörungen. Betroffene brechen Sätze ab. Manchmal ersetzen sie das Zielwort durch eines mit semantischer Nähe (z. B. „Blume“ statt „Baum“).
Broca-Aphasie
Betroffene sprechen langsam und angestrengt in kurzen, einfachen Sätzen und reihen inhaltstragende Wörter aneinander. Beispiel: „Ja … Hund … essen … Futter … ja …“
Wernicke-Aphasie
Die Sprache kommt flüssig, jedoch ergibt der Inhalt keinen oder nur wenig Sinn. Lange, verschachtelte Sätze, Schwierigkeiten, die passenden Wörter und Laute zu finden, Wiederholungen. Das Sprachverständnis ist stark beeinträchtigt.
Globale Aphasie
Schwerste Form der Aphasie, bei der Sprachverständnis und Sprachproduktion stark gestört sind. Betroffene artikulieren oft nur einzelne Wörter oder wiederholen immer dieselbe Floskel.
Quelle: Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe
Aphasie: Therapie der Kommunikationseinschränkungen
Wie sich das anfühlt, beschreibt sein Patient Maiwald mit Gesten: Flatternd bewegen sich seine Hände von links nach rechts oben, wie aufgescheuchte Vögel, die am Himmel verschwinden. Seine Lebensgefährtin übersetzt: „Du weißt das Wort, aber dann fliegt es vorbei, und weg ist es.“ Maiwald nickt – erfreut, dass sie ihn verstanden hat, und zugleich hilflos, weil er es selbst nicht sagen kann.
Schlaganfall-Patienten mit Aphasien geht es Studien zufolge meist schlechter als jenen, die ohne Kommunikationseinschränkungen davongekommen sind. Sie ziehen sich eher zurück und empfinden ihre Lebensqualität als geringer. Umso schöner sei es, wenn sie in der Sprachtherapie Fortschritte machen, sagt Schaffler. „Wenn ich merke, dass ich mit meiner Arbeit etwas erreicht habe, ist das ein tolles Gefühl. Den Betroffenen gibt jede Verbesserung mehr Motivation.“
Ist kurz nach dem Schlaganfall kaum Kommunikation möglich, gibt es für die Patienten in der Schön Klinik Tafeln, auf die sie zeigen können: „Ja“ und „Nein“ steht da darauf oder „Ich habe Schmerzen“, „Ich muss auf die Toilette“, „Ich habe Hunger“, „Ich habe Durst“. Die Wörter sind mit Zeichnungen versehen. Wer sich schon besser mitteilen kann, für den hat Schaffler einen Ordner vorbereitet. Auf den Seiten sind in Wort und Bild Jahreszeiten oder Lieblingsgerichte dargestellt.
Über diese Phase ist Maiwald hinaus. Er soll nun die Schlagworte aus der Übung mithilfe der Scrabble-Buchstaben legen. Therapeutin Schaffler sucht ihm die passenden raus, er muss sie in die richtige Reihenfolge bringen. G, E, L und D reiht der Patient von links nach rechts aneinander. „Sehr gut“, lobt Schaffler, schiebt ihm ein weißes DIN-A4-Blatt hin und zieht den Buchstaben E weg, um den Schwierigkeitsgrad zu erhöhen. „Jetzt schreiben Sie das Wort bitte auf.“ Maiwald nimmt den Bleistift in die linke Hand – die rechte kann er wegen der Lähmung nicht benutzen – und schreibt etwas ungelenk, aber korrekt „Geld“ auf das Blatt.
Kommunikationstipps für Angehörige
• Stellen Sie Blickkontakt her, und halten Sie ihn (zusätzlich durch Berühren).
• Sprechen Sie in kurzen, einfachen Sätzen, aber vermeiden Sie Babysprache.
• Sichern Sie Verständnis: „Hast du das gemeint?“
• Wiederholen Sie Nichtverstandenes, und formulieren Sie das Gesagte anders.
• Lassen Sie dem Betroffenen Zeit für die Antwort.
• Warten Sie auf Hilfesignale, und fragen Sie erst dann: „Soll ich dir helfen?“
• Nutzen Sie Schlüsselwörter: „Lass uns über die Reha sprechen.“
• Sprechen Sie in der Gegenwart des Betroffenen nicht über ihn.
• Unterstützen Sie Ihre Worte durch Gestik, Mimik, Gegenstände, Zeichnungen oder Geschriebenes.
Quelle: Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe
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Aphasie: Sprachstörung
Das Bild von einer Frau, die einen Koffer packt, kommt als Nächstes dran – und bereitet ihm Schwierigkeiten. „Sie packt die Kleidung in den großen …“, fängt Schaffler den Satz an. Maiwald: „Korb.“ Schaffler deutet auf das Foto: „Ist das ein Korb? Wenn man verreisen möchte, tut man die Dinge in einen …“
Maiwald: „Kork.“ Das richtige Wort – davongeflattert. „… in den großen Koffer“, sagt Schaffler sanft, aber klar artikuliert. Das hilft. Maiwald sagt, ohne zu zögern und ganz deutlich: „Koffer.“ Schaffler: „Genau, jetzt haben Sie es! Das schreiben wir jetzt noch mal auf.“ Maiwald schiebt die sechs Holzbuchstaben in eine Reihe und lehnt sich zurück, „KROFFE“ steht vor ihm auf dem Tisch. Als Schaffler das laut und mit gerunzelter Stirn vorliest, muss er lachen und rückt das R an die richtige Stelle. „Ja, ja, Koffer.“
Bei fast jedem zweiten Patienten bildet sich die Aphasie binnen eines halben Jahres zurück. Jeder Fünfte hat ein Jahr später noch Kommunikationsschwierigkeiten. Maiwalds Schlaganfall ist nun sechs Wochen her. „Er ist auf einem guten Weg“, sagt Schaffler. „Mit dem Schreiben klappt es immer besser, und sein Sprachverständnis hat sich deutlich verbessert.“ Das sei eine wichtige Voraussetzung, um zur Kommunikation in Zukunft vielleicht zusätzlich digitale Techniken wie ein speziell programmiertes Tablet zu nutzen.
Man dürfe sich Sprachtherapie nicht so vorstellen, dass Patienten die Wörter wie Vokabeln lernen, erklärt Schaffler. „So würden wir bei unserem großen Wortschatz ja niemals fertig. Das sprachliche Wissen ist bei Menschen mit Aphasie meist nicht vollständig gelöscht. Der Zugriff darauf ist jedoch oft stark blockiert.“ In der Therapie versucht die Pädagogin, die Sprachverarbeitungsprozesse zu aktivieren.
Annette Baumgärtner, Professorin für Logopädie an der Universität zu Lübeck, erklärt diesen überaus komplexen Vorgang so: „Das Sprachzentrum ist ein Netzwerk vor allem in der linken Hirnhälfte. Ist es beschädigt, springen Teile der rechten Hirnhälfte ein, um die Defizite auszugleichen.“ Das klappt mehr schlecht als recht, weil die rechte Hirnhälfte andere Aspekte der Sprache verarbeitet. Sie kann etwa den Tonfall von Gehörtem deuten. Doch nach und nach organisiert sich die linke Hirnhälfte neu und übernimmt einst gewohnte Aufgaben zurück.
„Das Gehirn bündelt nach einem Schlaganfall alle Ressourcen, um das Beste aus der Situation zu machen“, erklärt Baumgärtner. „Diesen Prozess können wir durch Sprachtherapie unterstützen.“
Das Problem: Häufig endet die Betreuung durch die Sprachexperten, bevor für den Patienten das Maximum herausgeholt ist. Nach der stationären Reha bezahlen die Krankenkassen oft nur einen wöchentlichen Termin beim Logopäden. „In vielen Fällen wäre eine intensivere Therapie hilfreich“, sagt Chefarzt Herzog. „Sprache ist noch länger erholungsfähig.“
Aphasie: Therapie und Reha
Logopädie-Professorin Baumgärtner kann dem nur zustimmen. Gemeinsam mit der Münsteraner Neuropsychologin Caterina Breitenstein und einem Wissenschaftlerteam aus ganz Deutschland hat sie Daten erhoben, die zweifellos beweisen: Intensive Sprachtherapie hilft selbst dann, wenn eine Aphasie schon seit Jahren besteht. Zwar gehört die Behandlung von Sprachstörungen zu den drei wichtigsten Themen im Forschungsfeld Schlaganfall.
Doch bis 2017 lagen keine Zahlen vor, die den Erfolg intensiver Sprachtherapie so eindrucksvoll bewiesen – obwohl es bereits im Jahr 2012 Hinweise darauf gab. In der Schön Klinik Schwabing möchte Sprachtherapeutin Schaffler nun gezielt den Wortabruf mit ihrem Patienten trainieren und deutet auf eines der Fotos. „Was tut der Mann? Er isst etwas. Er beißt da hinein. Er beißt in einen …?“ Maiwald: „Äh, Apfel!“ Das nächste Foto: „Er hat Schnupfen“, sagt Schaffler, „hatschi! Was putzt er? Er putzt seine …?“ Maiwald: „Namen.“ Schaffler: „Das Wort, das wir suchen, klingt ähnlich. Wenn man Schnupfen hat, putzt man sich öfter die …?“ Maiwald: „Nase!“
Noch knapp zwei Wochen wird Maiwald in der Klinik bleiben, dann beginnt eine Anschluss-Reha an einem anderen Ort. Mit einer Prognose hält sich seine Therapeutin lieber zurück: „Damit sollte man in dieser frühen Phase vorsichtig sein“, sagt Schaffler. „Er wird sicherlich noch deutliche Verbesserungen erreichen. Aber ob sich die Beeinträchtigungen vollständig zurückbilden, kann man nicht vorhersagen.“
Maiwalds Chancen wären am größten, vermutet Logopädin Baumgärtner, wenn er in Zukunft zwei- bis dreimal pro Jahr an einem dreiwöchigen Sprachtherapie-Block teilnehmen würde.
Das jedenfalls sagen ihre Zahlen nach Untersuchungen mit mehr als 150 Schlaganfall-Patienten. „Intensive Sprachtherapie ist wie Treppensteigen. Die Betroffenen können ihr Niveau selbst dann noch steigern, wenn sie zuvor bereits eine Intensivtherapie absolviert haben.“ Wer an Aphasie leidet, kann jederzeit Fortschritte machen und damit seine Lebensqualität verbessern – egal, in welchem Alter. Voraussetzung dafür ist eine gewisse Therapiehäufigkeit und -intensität. „Eine halbe Stunde pro Woche reicht einfach nicht“, sagt Baumgärtner.
Dass die dreiwöchigen Therapieblöcke, die sie in ihrer Studie untersucht hat, ein halbes Jahr später noch Wirkung zeigten, hat die Logopädin selbst überrascht: „Das hätte ich nicht zu hoffen gewagt. Die Sprache scheint sich wie eine Kugel auf einem Billardtisch zu verhalten: Sie muss mit recht viel Energie angestoßen werden, dann rollt sie aber für eine Weile von allein.“ Baumgärtner empfiehlt Aphasie-Patienten, das Ergebnis ihrer Studie der Krankenkasse vorzulegen, falls diese die Kosten für eine Sprachtherapie nicht weiter übernehmen will. „Die Betroffenen haben ein Anrecht darauf. Dem können sich die Versicherungen nicht verschließen.“
Markus Maiwald lehnt sich zufrieden im Stuhl zurück und greift nach seiner Wasserflasche. Den 50-Jährigen hat die vergangene Dreiviertelstunde sichtlich erschöpft. Er wirkt erleichtert. Soeben hat Patricia Schaffler die heutige Sprachtherapie für beendet erklärt: „Geschafft! Morgen geht es weiter“, sagt sie. Maiwald lacht, er scheint sich zu freuen: „Ja, ja“, sagt er nur.
Reha-Steckbrief: Neurologie
Für wen?
Die meisten Schlaganfall-Patienten gehen nach der Akutklinik in eine dreiwöchige stationäre Rehabilitation.
Wann?
Unmittelbar nach der akuten Therapie im Krankenhaus.
Besonderheit
Eine Sprachtherapie ist ein langwieriger Prozess. Sie sollte nach der stationären Reha weitergeführt werden, möglichst mehrmals die Woche oder in Intensivblöcken mehrmals im Jahr.
Dies ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in FOCUS-GESUNDHEIT „Reha-Kliniken 2020" – als Print-Heft oder als digitale Ausgabe.