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Gender Health Gap: „ADHS wird bei Frauen oft übersehen“

Bei Frauen bleiben die Konzentrationsstörungen ADHS oder ADS häufiger unerkannt oder werden erst sehr spät diagnostiziert. Im Interview mit Prof. Dr. Alexandra Philipsen klären wir, woran das liegt.

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Junge Frau sitzt an einem Schreibtisch und wirkt überfordert. Post-Its, die am Schreibtisch liegen und an der weißen Wand kleben, symbolisieren Chaos

© Jessica Peterson / Getty Images

In Deutschland sind rund fünf Prozent aller Menschen von der Konzentrationsstörung ADHS oder ADS betroffen. Bei den Frauen bleibt diese allerdings deutlich häufiger unerkannt oder wird erst sehr spät diagnostiziert. Im Interview mit Prof. Dr. Alexandra Philipsen klären wir, woran das liegt, welche Begleiterscheinungen mit einer Diagnose im Erwachsenenalter einhergehen und welche Behandlungsmethode am effektivsten ist.
Prof. Dr. Alexandra Philipsen, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit dem Schwerpunkt ADHS und ärztliche Direktorin am Uni-Klinikum Bonn.

Frau Dr. Philipsen, bei Frauen werden generell rund 700 Erkrankungen später diagnostiziert als bei Männern. Ist das bei ADHS auch der Fall?

Prof. Dr. Alexandra Philipsen: Ja, ADHS wird bei Frauen oft übersehen.

Woran liegt das? Sind es, wie so oft, die Hormone?

Zum Beispiel. Frauen schieben ihre Symptome sogar selbst oft auf die Hormone oder andere Probleme und ziehen sich lieber in ein Schneckenhaus zurück. Dazu wird die Symptomatik bei Frauen immer wieder mit anderen Erkrankungen verwechselt. Borderline, Depressionen oder Angststörungen können beispielsweise ähnliche Merkmale ausweisen.

Also erhalten Frauen mit ADHS oft nicht die Hilfe, die sie eigentlich bräuchten und werden im Zweifel sogar falsch behandelt?

Genau das ist das Problem, ja.

Was macht die ADHS-Diagnose bei Frauen noch schwierig?

Dass sich ADHS bei Frauen anders zeigt. Das bekannte Zappelphillipp-Klischee trifft bei Frauen kaum zu, stattdessen eher auf Männer. Frauen leiden häufiger an ADS – sind also weniger hyperaktiv: Sie sind ruhig und in sich gekehrter. Das äußert sich vor allem in hoher Sensibilität – sie sprechen auf innere und äußere Reize stärker an; sind oft unsicher, verträumt oder leiden häufiger unter Angstzuständen. Zudem schwankt die Ausprägung dieser Symptome tatsächlich oft mit den hormonellen Veränderungen – zum Beispiel während der Periode oder den Wechseljahren.

Nochmal zurück zu den Depressionen: Sind die oft auch Teil von ADHS?

Ja, sogenannte komorbide Störungen und psychische Erkrankungen wie eben Depression, Angststörung und Autismus, aber auch Schlafstörung, Suchterkrankungen, Zwangs- oder Persönlichkeitsstörung sind häufige Begleiterscheinungen. Viele Frauen geraten schnell aus dem seelischen Gleichgewicht und leben in ihrer eigenen Welt. Und je länger sie auf Diagnosen und Therapien warten müssen, desto schlimmer wird oft der Zustand.

Das heißt, mit einer früheren Diagnose könnte man da längst gegenwirken?

Ja, da bin ich sicher, denn nur auf eine richtige Diagnose kann auch die richtige Behandlung erfolgen.

Frau Dr. Philipsen, Sehen Sie eine Diagnose im Erwachsenenalter als eine Art Befreiungsschlag oder eher als neue Herausforderung?

Beides. Es beginnt oft mit einer Erleichterung, wenn es endlich eine Erklärung für das eigene Erleben, Gefühle, Probleme oder bestimmte Verhaltensweisen gibt. Kurze Zeit später höre ich aber oft: ‚Hätte ich das nur früher gewusst, dann wäre mir einiges erspart geblieben‘. Und im Erwachsenenalter spielt die Angst, plötzlich anders wahrgenommen, stigmatisiert oder als krank abgestempelt zu werden definitiv eine große Rolle.

In der Forschung wird diskutiert, ob ADHS überhaupt eine Erkrankung oder ein Überbleibsel der Evolution ist.

Aus ärztlicher Sicht wird ADHS oder ADS als psychische Erkrankung definiert und klassifiziert. Menschlich ist die Frage für mich schwieriger. Menschen mit ADHS sind nicht besser oder schlechter, krank oder nicht krank, sondern einfach anders – die einen besonders gewissenhaft, fast zwanghaft, die anderen sehr unkonzentriert und lebhaft.

Gibt es für Sie also auch gute Seiten an ADHS?

Definitiv. Bei Menschen mit ADHS oder ADS sind vor allem die Kreativität, Neugierde und Spontanität stark ausgeprägt. Das bereichert Freundesgruppen oder berufliche Teams sehr. Sie sind zudem oft viel risikofreudiger, denken unkonventioneller und etwas mehr ‚out of the box‘, wie man so schön sagt.

Und wenn die negativen Symptome überwiegen?

Dann sollte man sich nach Ärzten oder Psychologen umsehen – und dranbleiben, bis es eine eindeutige Diagnose gibt.

Wie sehen die ersten Schritte einer Behandlung aus?

Wir starten immer mit der Edukation, also informieren und klären über die Ursachen und Symptome auf. Danach geht es darum, herauszufinden, was Betroffene vorerst selbst und ohne Therapie oder Medikamente tun und an ihrem Lifestyle verändern können, um sich besser zu fühlen.

Was kann da zum Beispiel helfen?

Viele merken, dass ihnen Sport und Bewegung im Alltag guttun. Teamsport kann beispielsweise eine gute Möglichkeit sein. Dieser verbindet den Sport mit sozialen Kontakten und einer Regelmäßigkeit.

Sind Routinen wichtig?

Ja, eine immer gleiche Morgenroutine, kleine Rituale und Schlafgewohnheiten helfen dabei, den Alltag, das kleine innere Chaos und sich selbst zu strukturieren. Das kann zum Selbstläufer werden und wirkt manchmal Wunder.

Welche Therapiemöglichkeiten gibt es, wenn die Lebensumstellung nicht reicht?

Wenn die Symptome immer noch stark sind, stehen zwei weitere Möglichkeiten zur Verfügung: Eine Medikation oder eine Psychotherapie oder beides. Patienten können selbst entscheiden, welchen Weg sie einschlagen möchten.

Was halten Sie für am effektivsten?

Den besten Wirksamkeitsbeleg hat bislang die Medikation. Für mich – und das belegen auch einige Studien – ist aber eine Kombination aus einem angepassten Lifestyle, Medikation und Therapie der Schlüssel. Und ich halte eine professionelle Begleitung immer für sinnvoll, um mit anstehenden Veränderungen umzugehen.

Angenommen, ich habe eine Freundin, die vor kurzer Zeit die Diagnose ADHS bekommen hat. Haben Sie einen guten Tipp, wie ich sie unterstützen kann?

Wenn die Einkaufsliste mal wieder nicht vollständig abgearbeitet, der Sport aufgeschoben oder die Kaffee-Verabredung vergessen wird, dann kann das sowohl für Betroffene als auch für ihr Umfeld herausfordernd sein. Für mich ist ADHS eine Erklärung, keine Entschuldigung. Zeigen Sie als gute Freundin Verständnis und Nachsicht, aber helfen Sie nicht immer und überall und äußern Sie auch Unzufriedenheiten. Eine Beziehung funktioniert nur auf Augenhöhe!

ADHS und ADS

ADHS ist die Abkürzung für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung und bezeichnet eine Verhaltens- bzw. Konzentrationsstörung. Bei ADS tritt der Aspekt der Hyperaktivität nicht auf.

Gender Health Gap

Das Gender Health Gap bezeichnet ein Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern in der medizinischen Behandlung. Häufig werden nur die Erfahrungen männlicher Patienten berücksichtigt und die Medikamente und Behandlungs-methoden nur darauf abgestimmt. Doch bei rund 700 Krankheiten äußern sich Symptome bei Frauen anders und werden deshalb spät oder gar nicht erkannt. Und auch Medikamente können bei Frauen anders wirken.

Eine aktuelle und auf dem Weltwirtschafts-Forum vorgestellte Studie zeigt auf, dass mit der Schließung des Gender Health Gap rund 3,9 Milliarden Frauen ein gesünderes Leben ermöglicht werden könnte. Es gäbe weniger Todesfälle, weniger Gesundheitsstörungen und auch eine höhere wirtschaftliche und gesellschaftliche Leistungsfähigkeit. Jährlich könnten zum Beispiel mindestens eine Billion Dollar – eine eins mit zwölf Nullen oder das Bruttoinlandsprodukt der Niederlande – in die wirtschaftliche Produktivität fließen.

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