Dies ist die Geschichte eines Kindes, das an einer seltenen Erkrankung leidet – und nur deshalb ein lebenswertes Leben führen kann, weil seine Eltern eine umfassende Genuntersuchung durchsetzten. Ein Beispiel, das Patientinnen und Patienten mit onkologischen oder seltenen Erkrankungen Hoffnung machen kann. Denn seit Juli 2024 haben Menschen in Deutschland, bei denen eine genetische Ursache ihrer Krankheit vermutet wird, erstmals die Möglichkeit, ihre gesamte Erbinformation analysieren zu lassen. Ein Verfahren, das ihnen neue Chancen im Umgang mit ihrer Erkrankung eröffnet.
Noras Gendefekt ist auf der ganzen Welt bislang nur 50-mal dokumentiert, wobei ihre spezielle Variante sogar einzigartig ist. Wie bei allen seltenen Erkrankungen, von denen es leider recht viele gibt – es sind etwa 8.000 –, handelt diese Geschichte von einer langen Ärzte-Odyssee, von Ungewissheit und Ratlosigkeit. Doch sie hat ein Happy End: Eine Untersuchung des sogenannten Exoms, der codierenden Bereiche der DNA, in denen etwa 85 Prozent der bekannten krankheitsverursachenden Mutationen zu finden sind, führte auf die richtige Spur. So konnte die Diagnose gestellt und schließlich auch ein Medikament für die heute sechsjährige Nora gefunden werden.
Zu ihrem ersten Geburtstag kann Nora noch nicht richtig sitzen. Oft hat sie große blaue Flecken, ohne sich gestoßen zu haben. Auslöser ist eine Blutgerinnungsstörung. Ein paar Monate später vergisst sie Wörter, die sie bereits beherrschte. Die Ärzte beruhigen die Mutter: „Was wollen Sie, das Kind ist noch nicht mal zwei?“ Aber Noras Mutter, die bereits zwei Kinder hat, kommt es seltsam vor: Normalerweise baut ein Kind doch im Lernen auf, es gibt eine regelrechte Wortschatzexplosion. Bei ihrer Tochter verläuft die Entwicklung plötzlich rückwärts.
Spricht sie an einem Tag noch Drei- bis Vier-wortsätze, fehlen ihr wenig später fast sämtliche Begriffe. In der Straßenbahn hat sie einen kurzen epileptischen Anfall. „Sieht nicht gut aus“, sagt der diensthabende Arzt nach einem kurzen Blick auf die fast absurd wirkenden Ausschläge des EEGs. Nachts sind die epileptischen Aktivitäten so groß, dass teilweise gar kein Schlaf feststellbar ist. Die Diagnose: eine schwere Epilepsieform namens ESES/CSWS, welche die Sprach- und Verhaltensstörungen erklären könnte. Die betreuende Neuropädiaterin vermutet, dass eine genetische Erkrankung dahinterstecken könnte. Zunächst aber verschreibt sie Antiepileptika. Noras Zustand verschlechtert sich dramatisch: Innerhalb eines halben Jahres spricht sie nicht mehr, versteht nichts mehr. Kann kaum noch laufen, kaum noch sehen. Und nicht mehr schlafen.
Die Gehirnfunktionen des Kindes verschlechtern sich
Die Ursachenforschung beginnt. Erste genetische Untersuchungen wie etwa eine Chromosomenanalyse oder Tests einzelner Gene bzw. Gengruppen bringen jedoch kein Ergebnis. „Kindergartenniveau“, beklagt Noras Vater, selbst Biotechnologe, und fordert eine Untersuchung des gesamten Genoms. Es ist bekannt, dass bei 80 Prozent aller seltenen Erkrankungen ein Gendefekt zugrunde liegt. Wieso also lässt man nicht Patienten daran teilhaben, was 2020 technisch ja schon längst möglich ist und in der Forschung sogar angewandt wird? Eine andere Familie hatte in einem vergleichbaren Fall zwei Jahre lang geklagt, um eine große DNA-Sequenzierung zu erwirken. Diese Zeit wollen Noras Eltern auf gar keinen Fall verstreichen lassen.
Jahreswechsel 2020/21, das erste Pandemiejahr. Drei Kinder, Homeschooling. Nora, die Jüngste, ist drei Jahre alt und inzwischen schwer verhaltensgestört. Sie ist nur noch an Essen interessiert. „Totaler Wahnsinn“, sagt die Mutter im Rückblick, „das Kind hat gefressen bis zum Umfallen.“ Hyperphagie, ein übermäßiges Hungergefühl. Sie müssen alle Lebensmittel verstecken und füttern die Kleine „tonnenweise mit Gurken“, damit sie nicht noch weiter zunimmt. Es gibt Fotos, in denen Nora traurig in eine leere Salatschüssel schaut. Und dieses Video von ihrem dritten Geburtstag, an dem sie das Buch durchgehen, in dem Tierbildern Laute zugeordnet werden. Noch mit zweieinhalb hatte Nora alles gewusst. Jetzt antwortet sie auf die Frage, wie die Kuh macht: „Piep!“
Ihre Anfälle werden dramatischer, oft übergibt sie sich und läuft wegen Sauerstoffmangels blau an. Auch beginnt sie, massiv zu beißen. Sich selbst und andere. Die inklusive Kita verweigert die Betreuung. Das Kind sei eine Gefahr. Nora bewegt sich ausschließlich rennend, kann aber aufgrund der schlechter werdenden Gehirnfunktionen nur noch stark vermindert sehen – und läuft nicht selten gegen die Wand. Nachts hält sie alle vom Schlafen ab, tagsüber ist sie nicht in Schach zu halten. „Sie war ein Monster geworden“, sagt ihre Mutter im vollen Bewusstsein der Bedeutung dieses Wortes.
Werbung
Ein winziger Fehler auf Gen TRPM3
Ärzte und Eltern versuchen alles Mögliche: zusätzlich zu den üblichen Antiepileptika hochdosiertes Cortison. Cannabidiol. Eine komplizierte ketogene Diät. Nichts funktioniert. Fünf Epilepsiemittel werden ausprobiert, erfolglos. Anfangs waren die Ärzte der Berliner Charité zuversichtlich, aber jetzt wissen auch sie nicht weiter. Die in der Selbstrecherche versunkenen Eltern versuchen herauszufinden, welches Syndrom einer seltenen Erkrankung zu den Symptomen ihrer Tochter passen könnte. Es sind mehrere Hundert. „Jetzt bleibt nur noch die Genetik“, fordert Noras Vater und macht Druck: „Das Kind stirbt uns unter den Händen weg!“ Er drängt auf eine Sequenzierung des gesamten Genoms, die in den USA möglich wäre, in Deutschland laut Gendiagnostikgesetz aber noch untersagt ist. Im Januar 2021 darf wegen der Pandemie niemand fliegen. Eine Genanalyse scheint unerreichbar.
Die Charité beginnt damals, sogenannte Selektivverträge mit den Krankenkassen abzuschließen. Diese erlauben im Falle einer besonderen Dringlichkeit immerhin die Sequenzierung des Exoms, also aller codierenden Gene des Genoms. Nach vier Wochen liegt die erforderliche Unterschrift der Krankenkasse vor.
Und wenig später auch Noras Testergebnis: ein winziger Fehler, neu mutiert, also nicht von den Eltern vererbt, in einem Gen mit dem Namen TRPM3. Ist dies der Grund für ihre Erkrankung? Es gibt ähnliche Mutationen in diesem Gen, die weltweit zu vergleichbaren Krankheitssymptomen bei 13 anderen Kindern führen, allerdings ist es nicht exakt die gleiche Mutation. Daher wird Noras Variante zunächst der Signifikanzklasse 3 zugeordnet. Demnach erscheint es möglich, dass ihre Variante krankheitsauslösend ist. Aber sicher kann man sich nicht sein.
Noras Vater findet als Biotechnologe schnell raus, dass dieses Gen die Funktion eines Rezeptors steuert. Dieser TRPM3-Rezeptor reguliert wohl insbesondere die Empfindung von Hitzeschmerz und ist deshalb interessant für Wissenschaftler, die Schmerzmittel entwickeln. Noras Vater kontaktiert eine belgische Forschungsgruppe, die bereits über diesen Rezeptor publiziert hat. Die Experten erklären sich bereit, den Code von Noras Genmutation in spezielle Zellkulturen, sogenannten Zelllinien, einzuimpfen. Dabei stellen sie fest, dass durch Noras Mutation eine deutliche Überfunktion („GainofFunction“) des TRPM3-Rezeptors entsteht. Nun ist es mehr als wahrscheinlich, dass Noras Genmutation „hoch signifikant“ (Signifikanzklasse 5) ist und damit verantwortlich für ihr Leid. Und auch die Epilepsie nur eine Folge davon.
Die Eltern gehen davon aus, dass sich Noras schlechter Zustand nicht nur durch die Epilepsie, sondern auch durch ein dauerhaftes Schmerzempfinden erklären lässt. Wobei Nora dies nicht mehr kommunizieren kann, weil sie zu diesem Zeitpunkt bereits ihre Sprache verloren hat. Jetzt, da die Krankheit einen Namen hat, finden die Eltern in den sozialen Medien andere Familien, deren Kinder unter Schmerzen leiden oder aber ihr Schmerzempfinden komplett verloren haben. So berichtet eine Familie aus Kanada von ihrem Sohn, der nicht gespürt hatte, als er sich die Hände am Herd verbrannte.
Video: Genommedizin und Genomsequenzierung verstehen
Mehr zum Video
In diesem Video erfährst du alles über das Genom und die Genomsequenzierung. Es wird erklärt, was ein Genom ist und wie es dich einzigartig macht.
Prof. Dr. med. Evelin Schröck erläutert die Vorteile der Gesamtgenomsequenzierung, insbesondere für Patienten mit Seltenen Erkrankungen und Krebs. Du erhältst Einblicke in die Rolle genetischer Variationen und wie sie Krankheiten verursachen können. Die bewegende Geschichte von Kristina von Keyserling zeigt, wie ihre Tochter dank der Genomsequenzierung eine gezielte Behandlung für ihre schwer therapierbare Epilepsie erhielt. Das Video beleuchtet auch, wie personalisierte Medizin durch die Untersuchung deines Genoms präzisere Diagnosen und maßgeschneiderte Behandlungen ermöglicht. Eine betroffene Frau berichtet, wie die genetische Testung und personalisierte Therapie ihre Lebensqualität nach der Diagnose eines familiären medullären Schilddrüsenkarzinoms verbessert haben. Eine detaillierte Erklärung des Ablaufs einer Genomsequenzierung – von der Probenentnahme bis zur Besprechung der Ergebnisse – ist ebenfalls enthalten. Eine Betroffene berichtet über die Bedeutung der genetischen Forschung für ihre Hochrisikofamilie, die von zahlreichen Brustkrebserkrankungen betroffen ist. Zudem erfährst du, wie Initiativen des Bundesministeriums für Gesundheit den Zugang zur Genomsequenzierung verbessern und wie genomische Daten die Medizin der Zukunft gestalten.
Dieses Video bietet wertvolle Einblicke in die Welt der Genomforschung und zeigt, wie die Genomsequenzierung das Leben von Menschen verändert und die medizinische Versorgung revolutioniert. Begleite uns und erfahre, wie genetische Informationen die Zukunft der Medizin prägen können. Dieses Video ist im Rahmen des Pilotprojektes zum Aufbau einer bundesweiten Plattform zur medizinischen Genomsequenzierung „genomDE“ erstellt worden. Die ACHSE ist Projektpartnerin, sie bringt die Patientenperspektive der Menschen mit Seltenen Erkrankungen bzw. mit Verdacht auf eine „Seltene Erkrankung“ ein.
Betroffene finden Anlaufstellen und weitere Informationen unter: https://genom.de/de/informationen-und-anlaufstellen
Projektleitung und Koordination: TMF – Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V.
Weitere Informationen: www.genom.de
Ein altes Medikament bringt die Wende
Die Forscher erklären, dass es eine Handvoll Medikamente gibt, mit denen man den Rezeptor regulieren könnte. Noras Vater kontaktiert einen Pharmakologen aus Leipzig, der diese Medikamente erfolgreich an den Rezeptoren von Mäusen getestet hat. Er möchte herausfinden, ob das auch bei Nora funktionieren könnte. Sie einigen sich auf ein Medikament, das zufällig eine Zulassung aus den 50er-Jahren für Epilepsie bei Säuglingen hat. Allerdings wird es seit mehreren Jahrzehnten nur noch bei Parkinson und nicht mehr gegen Epilepsie verschrieben – weil es zellschädlich ist und Entwicklungsschäden verursachen kann. Die Neurologin, mit ihrem Behandlungslatein am Ende, folgt schließlich der Logik der Forschenden und willigt ein: „Schlimmer kann es nicht werden.“ Die Anwendung des Medikaments verstößt gegen jede Leitlinie. Aber strafbar ist sie nicht. Und anders als die meist absurd teuren Antiepileptika sogar sehr günstig.
Nora ist damals dreieinhalb Jahre alt. Die Therapie beginnt mit einer nahezu homöopathisch geringen Dosierung. Zunächst einmal passiert: nichts. Noras Zustand bleibt normal schlecht, aber das Kind scheint sich wohlerzufühlen. Im Sommer bemerken die Eltern eine Veränderung. Die Familie macht einen Ausflug zum Werbellinsee. Nora scheint ihre Geschwister wiederzuerkennen. Beim Spielen läuft sie nur ihnen hinterher, nicht wie sonst den anderen Kindern. In diesem Moment ruft ihre Neurologin an, die sich wundert, schon länger nichts mehr gehört zu haben. Wie es Nora denn gehe? „Sie ist wieder niedlich“, antwortet der Vater. Ja, eigentlich gehe es ihr so gut wie lange nicht. Als sie ein Kontroll-EEG machen, sehen sie das Unglaubliche: Plötzlich ist es keine „Gewitterparty“ mehr, nicht mehr diese nervösen Zacken, bei denen schon ein Laie ahnt, dass sie nichts Gutes verheißen. Nein, es ist zur Überraschung aller beteiligten Ärzte völlig normal. Ein sauberes EEG. Eine medizinische Sensation.
In der noch weitgehend unerforschten Behandlung von Rezeptorstörungen markiert Nora einen Durchbruch. Sie ist weltweit der erste Fall, in dem eine Rezeptorstörung so erfolgreich behandelt werden konnte. „Unser Kind hat eine Riesenchance bekommen“, sagt ihre Mutter. Nora kann wieder sehen, hat keine Anfälle mehr, und kurz vor ihrem fünften Geburtstag hat sie sogar wieder angefangen zu sprechen. Ihr Wortschatz vergrößert sich permanent.
FOCUS-Gesundheit 04/24
Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in der Ausgabe Klinikliste 2025. Weitere Themen: Modellprojekt: Neues Diagnoseverfahren bei seltenen Erkrankungen. Wird bei Rückenschmerzen zu schnell operiert? So treffen Sie für sich die richtige Entscheidung. U.v.m.
Natürlich bleibt sie verhaltensauffällig. Sie ist jetzt sechs Jahre alt und hat den Entwicklungsstand eines ungefähr dreijährigen Kindes. Die ersten Jahre fehlen ihr. Aber sie holt auf. Ganz normal gesund wird sie nicht werden, doch die Verbesserungen sind unübersehbar: Sie kann kommunizieren und an einem Kita-Tag teilnehmen – vor einigen Jahren noch undenkbar. Die schädlichen Nebenwirkungen ihres Medikaments werden durch ein zweites stabilisierendes gemildert. Große Hoffnung verspricht auch ein neues Präparat der belgischen Forschungsgruppe, das, basierend auf deren TRPM3-Forschung, demnächst zugelassen wird.
Immer noch ist Nora hyperaktiv, und ausgelöst durch die Epilepsie hat sich bei ihr ein frühkindlicher Autismus herauskristallisiert. Die Sechsjährige rennt zur Tür, um den Gast einzulassen, der bereits im Zimmer steht. Dann nimmt sie den freudig Begrüßten über Stunden gar nicht mehr wahr. Häufig wiederholt sie Dinge, die andere gerade gesagt haben. Oder sie lernt Dialoge aus Fernsehsendungen. „Mama, darf ich den Hund anfassen?“, sagt sie, wenn sie auf der Straße einen Hund sieht, weil sie sich den Satz aus einer Serie eingeprägt hat. Sie weiß nur nicht genau, was die Worte eigentlich bedeuten. Aber das kommt schon noch.