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Als Projektmanager bei einem Automobilzulieferer ist Tobias Freund (Name von der Redaktion geändert), 31, beruflich auf der Überholspur unterwegs. Strategieplanungen, Teambriefings, Budgetverhandlungen – jeder Bürotag ist ausgefüllt. Umso mehr verstörte es den Angestellten aus der Nähe von Stuttgart, als sein Körper vor knapp zwei Jahren in den Schleichgang schaltete. „Ich fühlte mich zunehmend schwach auf den Beinen. Gelegentlich wurde mir schwindelig, und Freunde sprachen mich an, weil ich so blass aussah.“
Ein Bluttest beim Hausarzt offenbarte, was dem Wirtschaftsingenieur die Kraft raubte: Seine Nieren versagten zunehmend ihren Dienst. Die glomeruläre Filtrationsrate (GFR), der wichtigste Wert zur Einschätzung der Organfunktion, war auf lediglich 35 Prozent gesunken. „Mein Arzt sagte, solche Werte sehe er sonst nur bei seinen 80-jährigen Patienten“, erinnert sich Freund.
In gesunden Nieren sind rund zwei Millionen Filtereinheiten, die Nephra, pausenlos beschäftigt, das Blut zu reinigen und aus den Rückständen Urin zu bilden. Jedes Nephron besteht aus einem Nierenkörperchen sowie einem Knäuel feinster Blutgefäße (Glomeruli) und Kanälchen (Tubuli). In Deutschland hat etwa jeder Zehnte eine chronische Nierenschwäche, bei der die Filtereinheiten nach und nach ihre Funktion einbüßen.
Für Betroffene hat das gefährliche Folgen: „Bereits leichte Einschränkungen der Nierenfunktion steigern das Risiko, an Herz und Kreislauf zu erkranken“, sagt Julia Weinmann-Menke, Leiterin der Klinik für Nephrologie, Rheumatologie und Nierentransplantation an der Mainzer Uniklinik.
Versagen die beiden faustgroßen Organe, die das Blut von Schadstoffen befreien, führt das unbehandelt zum Tod. „Analysen zeigen, dass Menschen mit einer Filtrationsrate von weniger als 30 Prozent eine kürzere Lebenserwartung haben als Tumorpatienten“, so die Nephrologin.
Folgen von Nierenschwäche
Wird eine Nierenschwäche nicht zufällig diagnostiziert, macht sie sich wie bei Tobias Freund bemerkbar, wenn die Hochleistungsfilter nur mehr im Teilbetrieb arbeiten. Anzeichen sind häufigeres Wasserlassen, hoher Blutdruck, geschwollene Beine oder Juckreiz. Je weiter das Nierenversagen fortschreitet, desto erschöpfter fühlen sich die Patienten. „Die Abgeschlagenheit ist letztlich eine Vergiftungserscheinung“, erklärt Freunds Arzt Niko Braun vom Internistisch- Nephrologischen Zentrum Stuttgart. „Die Niere ist nicht mehr in der Lage, den Körper von harnpflichtigen Substanzen zu befreien.“ Diese Symptome treten, falls überhaupt, erst spät auf. „Da ist das Kind meistens schon in den Brunnen gefallen.“
Jahrzehntelang konnte die Medizin Patienten wie Tobias Freund wenig Hoffnung machen: Es gab keine Medikamente, die das Absterben ihrer Nierenkörperchen gestoppt oder auch nur gebremst hätten. Damit blieb Betroffenen, sobald ihre GFR unter 15 Prozent sank, nur, die Funktion der eigenen Nieren zu ersetzen: durch eine Nierentransplantation oder Dialyse. Die Blutwäsche, die dreimal pro Woche im Krankenhaus erfolgen muss, kommt aus Mangel an Spenderorganen häufiger zum Einsatz. Etwa 100.000 Menschen sind hierzulande auf die lebensrettende Behandlung angewiesen.
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Neue Medikamente zur Behandlung von chronischer Nierenkrankheit
In Zukunft wird diese Zahl sinken: Neue Medikamente können eine chronische Nierenkrankheit derart erfolgreich bremsen, dass viele Ersatztherapien unnötig werden dürften. „Das ist eine wirkliche Zäsur, der Beginn einer neuen Ära“, freut sich Weinmann-Menke, die auch Pressesprecherin der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie ist. „Zum ersten Mal können wir Patienten aktiv behandeln, anstatt uns auf gute Ratschläge zu beschränken.“ Diese Empfehlungen zielen unter anderem darauf ab, Bluthochdruck und Blutzucker gut einzustellen – die beiden häufigsten Ursachen für Nierenversagen.
SGLT-2-Hemmer oder Gliflozine
Die wichtigsten der nun verfügbaren Wirkstoffe werden als SGLT-2-Hemmer oder Gliflozine bezeichnet. Weinmann-Menke: „Die Mittel senken den Druck in den Nierengefäßen und Nierenkörperchen. Das bremst deren Niedergang.“ In Zulassungsstudien reduzierte die Behandlung mit einem Gliflozin im Vergleich zum Placebo das Risiko für ein Fortschreiten der Nierenfunktionseinschränkung um 37 Prozent.
In der Inneren Medizin gelten Gliflozine geradezu als Wunderwaffe. Ihre Karriere begann 2012 mit dem Wirkstoff Dapagliflozin, der eine neue Ära in der Behandlung von Typ-2-Diabetes eingeleitet hat. Er blockiert ein Transportprotein in der Niere, das SGLT-2. Dadurch kann Glukose nicht zurück in den Blutkreislauf, sondern wird über den Urin ausgeschieden – und der Blutzuckerspiegel sinkt.
GLP-1-Analoga und DPP-4-Hemmer
In den Jahren nach der Zulassung stellte sich heraus, dass Gliflozine nicht nur bei Diabetes helfen, sondern auch bei chronischer Herzinsuffizienz und Nierenkrankheiten. Ähnliches gilt für andere Diabetesmedikamente: GLP-1-Analoga und DPP-4-Hemmer regulieren den Blutzucker, stabilisieren aber auch die Nierenfunktion und wirken entzündungshemmend.
Tobias Freund behandelt sein Nierenproblem mit einem SGLT-2-Hemmer. Zusätzlich nimmt er zwei weitere Medikamente gegen die Immunglobulin-A-Nephropathie (IgAN). Dieses Leiden hatte seine Nierenschwäche ursprünglich ausgelöst: „IgAN ist eine Immunkrankheit, die vorwiegend jüngere Erwachsene betrifft“, erklärt Freunds Arzt Niko Braun. „Dabei lagern sich Eiweiße in den Nierenkörperchen ab, was schließlich zu einer Entzündung führt.“ Die Erkrankung verläuft meistens jahrelang unbemerkt, bis sie in eine Nierenschwäche mündet.
Mit Anfang 30 zählt Freund zu Brauns jüngeren Patienten; die meisten anderen haben das 60. Lebensjahr überschritten. „Mit zunehmendem Alter werden die Nieren von Natur aus schwächer“, erklärt der Arzt. „Ab dem 45. Lebensjahr lässt ihre Funktion um ungefähr ein Prozent pro Jahr nach.“ Bei Gesunden ist dieser Rückgang unproblematisch – die Nieren besitzen eine enorme Reservekapazität. Problematisch wird es, wenn zum altersbedingten Funktionsverlust Erkrankungen hinzukommen, die die beiden Organe stressen. Braun: „Typ-2-Diabetes ist in Deutschland die häufigste Ursache für eine chronische Nierenkrankheit. Der hohe Blutzucker schädigt die kleinen Blutgefäße, die die Nieren durchziehen.“
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft schätzt, dass 20 bis 40 Prozent aller Diabetespatienten eine Nephropathie entwickeln. Zweithäufigste Ursache für die Nierenkrankheit ist Bluthochdruck.

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FOCUS-Gesundheit 02/2025
Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in der Ausgabe Die große Ärzteliste 2025. Weitere Themen: Ein neues Kommunikationskonzept verändert die Arzt-Patienten-Beziehung. Und: Wie Künstliche Intelligenz die Medizin revolutioniert. Außerdem: Patienten mit rheumatoider Arthritis dürfen auf Heilung hoffen. Plus: Deutschlands Top-Mediziner für 126 Fachbereiche.
Viele ahnen nichts von ihrer chronischen Nierenschwäche
Weil sich der Verlust der Nierenkörperchen nicht rückgängig machen lässt, wäre es umso wichtiger, die Erkrankung früh festzustellen. Wie Nierenärzte kritisieren, werden Risikogruppen mit Diabetes, Herzschwäche oder Bluthochdruck allerdings nicht hinreichend untersucht. „Es liegt im Ermessen des Hausarztes, ob er die nötigen Tests vornimmt. Leider passiert das zu selten“, bedauert Martin Kuhlmann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie und Chefarzt der Klinik für Nephrologie im Berliner Vivantes Klinikum im Friedrichshain. Viele ahnen nichts von ihrer chronischen Nierenschwäche. „Das ist umso tragischer, weil es nun endlich wirksame Medikamente gibt“, so Kuhlmann.
Für einen Arzt ist es nicht schwierig herauszufinden, ob jemand auf eine schwere Nierenkrankheit zusteuert: Eine Blutuntersuchung und ein Urintest genügen. Im Blut ist das Kreatinin ein entscheidendes Maß. Funktionieren die Nieren, fischen sie das Abbauprodukt der Muskeln aus dem Blut. Deshalb hilft der Laborwert, ihre Filtrationsrate abzuschätzen. Kuhlmann: „Allerdings kann das Kreatinin im Frühstadium einer chronischen Nierenkrankheit noch niedrig sein. Zusätzliche Sicherheit bringt der Urintest auf das Eiweiß Albumin.“ Ein erhöhter Wert ist oft das erste Anzeichen für geschädigte Nierengefäße.
Nierenspezialisten wie Kuhlmann empfehlen Patienten, ihren Arzt gelegentlich zu bitten, die beiden Untersuchungen durchzuführen: „Das gilt gerade für Menschen mit Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Auch Adipositas oder Nierenkrankheiten in der Familie sind ein Grund, wachsam zu sein.“ Bei Gesunden genüge es, so der Fachmann, wenn der Hausarzt bei regelmäßigen Check-ups den Urin mit untersucht.
Wahrscheinlich hätte auch Tobias Freund davon profitiert: Die Nierenerkrankung IgAN, die seine Entgiftungsorgane an den Rand des Ausfalls brachte, macht sich durch Eiweiß oder Blut im Urin bemerkbar – bleibt aber aufgrund fehlender Vorsorge häufig unentdeckt. Dank der neuen Medikamente geht es dem 31-Jährigen heute gut. Er verträgt die Tabletten und fühlt sich trotz Nierenschwäche wieder belastbar. „Als Ausgleich zum Büro gehe ich dreimal die Woche ins Fitnessstudio und lebe ganz normal.“