Die Kleinen sind die Rekordhalter. Jüngere Kinder verorten jedes Unwohlsein in der Nabelregion: Mittelohrentzündungen, elterliche Verbote, der kaputte Teddy – alles löst Bauchschmerzen aus. Der inflationäre Gebrauch des Satzes „Mama, mein Bauch tut weh!“ hindert Eltern nicht daran, sich Sorgen zu machen. Ist es etwas Ernstes? Wächst sich das aus? Steckt die Psyche dahinter?
Daran ändert sich im Lauf des Lebens nicht viel. Es ziept und schmerzt zwischen Zwerchfell und Beckenboden – wenn man Pech hat, immer wieder. Jeder fünfte Deutsche leidet regelmäßig unter Bauchschmerzen, Frauen sind öfter betroffen als Männer. Bei Heranwachsenden ist Bauchweh (nach Kopfweh) der zweithäufigste Schmerz.
Diagnostisch betrachtet ist der Bauch das reinste Bermudadreieck – eine Katastrophenregion, die Rätsel aufgibt. Selbst für erfahrene Ärzte der Gastroenterologie kann die Spurensuche zur Herausforderung werden. Denn wo viel ist, kann auch viel krank sein oder wehtun. Im Bauchraum befindet sich quasi das industrielle Ballungszentrum des Körpers: Ein System hochspezialisierter Organe und Billionen von Bakterien halten lebenswichtige Funktionen aufrecht. Sie versorgen den Organismus, leiten Abfall weg, wehren Angriffe ab und beteiligen sich an der Verarbeitung seelischer Probleme. In keinem anderen Areal kann ein Schmerz deshalb so viele verschiedene Auslöser haben – organische, funktionelle, ernährungsbedingte und psychische.
Werbung
Bauchschmerz an wechselnden Stellen meist ungefährlich
Lästige Blähungen sind keineswegs immer dem deftigen Bohneneintopf zuzuschreiben. Wer sucht, findet das Symptom der Flatulenz auch bei Lebensmittelallergien, Darminfektionen, Lebererkrankungen oder Bauchspeicheldrüsenentzündungen. Ausgestattet mit einem profunden Halbwissen, das durch beunruhigende Google-Recherchen und alarmierende Foren-Einträge angereichert ist, sitzt der aufgeklärte Patient auf dem Sofa und sorgt sich. Reicht Fencheltee? Oder sollte ich besser sofort zum Arzt gehen?
„Wenn ein Schmerz kommt und wieder geht, an wechselnden Stellen auftritt und man davon nachts nicht wach wird, steckt aus medizinischer Sicht meistens nichts Bedrohliches dahinter“, beruhigt Gastroenterologe Ralf Gehlen. Bei etwa 50 Prozent der Patienten, die wegen wiederkehrender Bauchschmerzen in seine Facharztpraxis in Hildesheim kommen, liegen keine gravierenden gesundheitlichen Probleme vor. Generell, so klärt der 54-Jährige auf, weisen Schmerzen an wechselnden Stellen des Bauchraumes eher auf Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Stress oder ein Reizdarmsyndrom hin. Beschwerden, die immer an derselben Stelle auftreten, haben meist organische Ursachen.
Stärke der Schmerzen nur ein Anhaltspunkt
Schmerzen sind Alarmzeichen. Aber wie schlimm steht es wirklich? Was der eine nur unangenehm findet, ist für den anderen kaum auszuhalten. „Das Schmerzempfinden ist äußerst individuell“, erklärt Ralf Gehlen. Die Schmerzintensität ist für den Arzt deshalb nur einer von vielen Orientierungspunkten. Unerklärliche Gewichtsabnahme, wiederkehrendes Fieber, Blut im Stuhl, anhaltende Durchfälle und nächtliche Schmerzen sind Leitsymptome, die auf die Ernsthaftigkeit einer Erkrankung hinweisen. „Red Flags“ nennen Mediziner diese Anzeichen, deren Ursachen unbedingt abgeklärt werden müssen, um schwerwiegende Erkrankungen auszuschließen. Betroffene sollten sie nicht auf die leichte Schulter nehmen.
„Patienten mit ernsten gesundheitlichen Problemen kommen manchmal erst mit dem Kopf unter dem Arm in die Praxis“, beklagt Gastroenterologe Gehlen. Das mag auch daran liegen, dass die Kriterien, die der Kopf anlegt, in der Bauchregion oft in die Irre führen. Je stärker die Schmerzen, desto schlimmer die Krankheit, sagt der gesunde Menschenverstand. Krebserkrankungen verlaufen jedoch oft lange schmerzfrei. Und lebensbedrohliche chronische Leberentzündungen verursachen zwar Müdigkeit und Konzentrationsprobleme, aber keine Bauchbeschwerden. Dagegen entpuppen sich kolikartige Bauchschmerzen, die Patienten nachts in die Notaufnahmen der Krankenhäuser treiben, bisweilen als banale Blähungen.
Das „Chamäleon des Bauchraums“
Plötzlich auftretende, heftige Bauchschmerzen sind immer ein Warnsignal. Ein wichtiges Indiz für einen „akuten Bauch“ oder ein „akutes Abdomen“, wie Mediziner eine lebensbedrohliche Notfallsituation nennen, ist die Abwehrspannung: Die Bauchdecke reagiert beim Abtasten auf kleinste Berührungen extrem druckempfindlich und verhärtet sich. Auslöser sind etwa akute Gallenblasenentzündung, Nierenkolik, ein durchgebrochenes Magengeschwür, akute Pankreatitis (Bauchspeicheldrüsenentzündung), Darmverschluss, Divertikulitis (entzündliche Ausstülpung der Dickdarm-Schleimhaut) und akute Blinddarmentzündung, um nur die häufigsten zu nennen. Schnell die zutreffende Ursache zu finden, fällt selbst Ärzten nicht immer leicht.
Ein Paradebeispiel für die diffizile Diagnostik ist die Blinddarmentzündung: Eltern bauchwehgeplagter Kinder fürchten sie ständig, betroffene Erwachsene rechnen vielfach gar nicht mehr mit ihr. Die Welt ist voller Geschichten über tatsächliche Blinddarmentzündungen, die erst in letzter Sekunde erkannt wurden, und vermeintliche, die sich als Wurmbefall, Nahrungsmittelunverträglichkeit oder Schulstress entpuppten. Die Appendizitis, bei Medizinern als „Chamäleon des Bauchraums“ verschrien, tarnt sich gern mit Bauchschmerzen am Nabel oder in der Magengegend und ist eine häufige Ursache von Fehldiagnosen.
Werbung
Zeit und Geduld helfen bei der Ursachensuche
Generell hat die Frage „Wo tut’s weh?“ im Bauchraum und um ihn herum eine ganz eigene Dimension. Die Erwartung, dass man die Leiden dort spürt, wo sie entstehen, ist trügerisch. Schmerzen im Oberbauch können zum Beispiel auf einen drohenden Herzinfarkt oder eine Lungenembolie hinweisen. Umgekehrt sind Beschwerden in der Schulterregion unter Umständen durch Erkrankungen der inneren Organe verursacht.
Die Erklärung für solche Phänomene lieferte im ausgehenden 19. Jahrhundert der Engländer Henry Head. Der Neurologe stellte fest, dass innere Organe und bestimmte Hautbereiche teils von denselben Nervenwurzelpaaren (Spinalnerven) versorgt werden, die dem Rückenmark entspringen. Erkranken die Organe, spürt der Patient auch Beschwerden oder Empfindungsstörungen in den zugehörigen Hautarealen („Head’sche Zonen“). Eine Gallenkolik verursacht Schmerzen im rechten Oberbauch, aber auch im Rücken und im rechten Schulterblatt. Und die Pankreatitis wird als drückender Schmerz empfunden, der sich wie ein enger Gürtel um den Oberbauch zieht und bis auf den Rücken ausstrahlt.
Ein suboptimaler Zustand für das hochspezialisierte Gesundheitssystem: Bei rechtsseitigen Schulterschmerzen kann der Gynäkologe der richtige Ansprechpartner sein, bei Rückenschmerzen der Gastroenterologe, bei Oberbauchschmerzen der Kardiologe. Patienten müssen manchmal Zeit und Geduld aufbringen, bis die Ursache gefunden ist.
Ultraschall und Patientengespräch
Um Fehldiagnosen auszuschließen, suchen Ärzte verstärkt Rückhalt bei der Apparatemedizin. So stieg in den USA die Zahl der CT-Untersuchungen bei Kindern, die mit akutem Abdomen in die Notfallambulanz eingeliefert wurden, signifikant an – obwohl die medizinischen Leitlinien standardmäßig eine Ultraschalluntersuchung vorsehen und Kinder bei der Computertomografie belastender Strahlung ausgesetzt sind.
„Oft wird zu schnell ein CT oder MRT gemacht“, meint auch der Hildesheimer Facharzt Ralf Gehlen. „Am Anfang der Diagnostik ist es wesentlich sinnvoller, sich mit den Patienten zu unterhalten und vernünftige Basisuntersuchungen durchzuführen.“ Mit einem Anamnesegespräch, einer Bauchuntersuchung und einem guten Ultraschall seien 90 Prozent der Krankheiten diagnostizierbar, sagt Gehlen.
Der Gastroenterologe will von seinen Patienten genau wissen, wo, wann und wie die Bauchschmerzen auftreten. Beschwerden vor dem Essen? Vielleicht ein Zwölffingerdarmgeschwür. Schmerzen nach einem (fetten) Essen? Hinweis auf eine Gallenkolik. Auch am heiklen Thema Ausscheidungen kommt der Patient nicht vorbei. Dunkler Urin und heller Stuhl? Eventuell ein Gallenstein. „Die Patienten scheuen sich oft, solche Dinge anzusprechen“, sagt Gehlen. „Der Arzt muss gezielt nachfragen.“ Auch das Alter kann bei der Spurensuche von Bedeutung sein. Die entzündliche Darmerkrankung Morbus Crohn treffe häufig Frauen zwischen 17 und 27. Und mit zunehmendem Lebensalter steige die Wahrscheinlichkeit für eine Divertikulitis, eine entzündliche Ausstülpung der Darmwand, erklärt der Facharzt.
Stimmt die Ernährung?
Bei Kindern, den Bauchweh-Kandidaten Nummer eins, fällt die Einschätzung besonders schwer. „Der Bauch ist der Bereich des Körpers, auf den sich vieles projiziert“, sagt Philip Bufler, Kinderarzt und pädiatrischer Gastroenterologe am Dr. von Haunerschen Kinderspital des Klinikums der Universität München. „Wir Kinderärzte müssen herausfinden, ob wir es mit einem organischen Problem zu tun haben oder nicht.“
Oft fragt der Arzt bei der Anamnese nach den Ernährungsgewohnheiten. Nahrungsmittelunverträglichkeiten und -allergien zählen zu den Hauptursachen für somatische Bauchschmerzen im Kindesalter. „Fruchtzucker- oder süßstoffhaltige Limonaden wie Softdrinks, aber auch Apfelsaftschorle können, im Übermaß genossen, Bauchschmerzen auslösen“, erklärt Bufler. Jenseits des Säuglingsalters entwickelt der Organismus oft eine natürliche Abneigung gegen Milchzucker (Laktose-Intoleranz). Die Zöliakie muss als häufige, erworbene Abwehrreaktion des Körpers auf glutenhaltiges Getreide ebenfalls ausgeschlossen werden. „Als Arzt muss man sich immer die Alarmzeichen vor Augen halten“, sagt Bufler. Auch die Zahl der chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, allen voran Morbus Crohn, sei bei Kindern nachweisbar gestiegen und sollte diagnostisch unbedingt abgeklärt werden.
Werbung
Einfache Diagnostikmethoden bei Kindern
Für die jungen Patienten seien die Untersuchungen kaum belastend, versichert der Mediziner. Die meisten gängigen Erkrankungen ließen sich durch einfache Blutuntersuchungen, Atemtests (Frucht- und Milchzuckerunverträglichkeiten) oder Urinteststreifen (Erkrankungen der Harnwege) nachweisen oder relativ sicher ausschließen. In vielen Fällen können die Ärzte am Ende den Kindern und ihren Eltern vermitteln, dass keine organischen Krankheiten vorliegen.
Mütter und Väter halten das nicht immer für eine gute Nachricht, sagt Bufler. Ein klares Krankheitsbild, das sich medikamentös therapieren lässt, mache ihnen oft weniger Sorgen als „funktionelle“ Bauchschmerzen, die besser mit verhaltenstherapeutischen Maßnahmen behandelt werden.
Richtige Aufklärung in jedem Alter
Manchmal hilft schon das Wissen, wie die Beschwerden zu Stande kommen. „Man darf einem Patienten mit chronisch-funktionellen Bauchschmerzen nie das Gefühl vermitteln, er bilde sich die Symptome nur ein“, warnt Experte Bufler. „Das wäre auch ganz falsch, diese Schmerzen sind real.“ Den Beweis erbringen Ärzte mit rektalen Barostat-Messungen: ein kleiner Ballon, in den Darmtrakt eingeführt und mit einer pneumatischen Pumpe betätigt, kann Schmerzschwellen definieren. Damit lässt sich die „viszerale Hypersensibilität“ – die hohe Empfindlichkeit der Bauchorgane – belegen. Menschen mit niedriger Reizschwelle empfinden bereits natürliche Darmwanddehnungen beim Stuhlgang als Schmerzen.
Philip Bufler und seine Kollegen am Kinderspital klären ihre jungen Patienten altersgerecht über diese Zusammenhänge auf. „Wir haben Bilder, wie das funktioniert im Bauch. Auch mit Luftballons kann man gut darstellen, wie die Nervenzellen in der Bauchwand gedehnt werden“, erzählt der Gastroenterologe.
Ist nach einigen Wochen keine Besserung eingetreten, empfehlen die Ärzte ein Schmerzbewältigungsprogramm. Dabei lernen die Kinder auslösende Faktoren wie zum Beispiel Stress kennen und entwickeln Strategien, mit dem Schmerz umzugehen.